Réka Juhász:
Predigtreihe “Die Jünger Jesu”
Teil II: Andreas und das Geheimnis des Gefundenwerdens

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserm Vater und dem Herrn Jesus Christus. Amen

„Haben Sie schon einmal die Bibel gelesen?“
Eine Frage, die mir von den SuS in der 1. Klasse Gymnasium jedes Jahr als erstes gestellt wird, wenn sie ihre Schulbibel in der Hand halten.
Wow, das sind aber ganz viele dünne Seiten – mehrere Tausend Seiten sogar….
Ein Schüler begann sogar zu rechnen, wie viele Unterrichtstunden bräuchten wir, wenn wir jede Stunde 20 Seiten schaffen könnten…
Haben Sie, liebe Gemeinde – die Bibel schon gelesen? Kennen Sie wirklich schon alle Geschichten?
Und wenn nicht, könnte dies ein Hindernis sein für den Glauben?
Nur wer die ganze Bibel gelesen hat, kann den christlichen Glauben richtig ausüben?

„Ich lese jeden Tag die Bibel, aber manche Texte sind voller Gewalt, oder voller Gesetz und Vorschriften…oder so kompliziert, dass ich damit gar nichts anfangen kann…“ erzählen mir immer wieder Menschen, die sich gerne intensiver mit der Bibel auseinandersetzten würden. „Wie liest man die Bibel, wo soll ich anfangen?“ wird immer wieder gefragt.
Als Antwort darauf weise ich immer darau fhin, dass wir sonntags, hier im Rahmen des Gottesdienstes nicht nur gemeinsam beten, singen, sondern uns mit der Bibel beschäftigen…
Denn kann der Glaube wachsen und gestärkt werden, ohne dass man sich intensiv mit der Bibel und mit ihren Geschichten, mit ihren Aussagen und überhaupt mit der christlichen religiösen Tradition beschäftigt?

„Indoktrination“ – „Gehirnwäsche“ wird den Kirchengemeinschaften von außen vorgeworfen, besonders von den modernen säkularen Humanisten.
Zitat aus einem Statement von Humanisten zum Thema Religionsunterricht in den Schulen:
„Nicht Indoktrination, sondern Information soll den Unterricht in den Schulen bestimmen. Es widerspricht der Idee, selbstdenkende und mündige Bürger heranzubilden, wenn man Kinder von klein auf religiös indoktriniert, mit unvernünftigen Vorschriften reglementiert… Bringt den Kindern vernünftige Verhaltensregeln bei und lasst sie spielen, denken und fragen – Ethik ab Kindergarten! Schräge Ideen können sie sich später reinziehen…“

Doch, dass Religion Aberglaube sei – ist nicht nur die Meinung von säkularen Humanisten sondern höre ich immer wieder aus dem Mund von evangelisch Getauften Jugendlichen im Religionsunterricht – diese haben zumindest die Chance, durch einen guten Religionsunterricht Religion, Aberglauben und christliche Tradition zu thematisieren.

Wie können wir dem Säkularismus in unseren kirchlichen Kreisen begegnen? Oder diesen aufhalten? Eine große offene Frage, die sich heutzutage die gesamte Christenheit stellt. Einige christliche Gemeinden finden die Antwort darin, dass sie ihre Mitglieder zur Einhaltung von strengeren Regeln aufrufen.
In einem Punkt gebe ich diesen Gruppierungen Recht: ohne intensive Beschäftigung mit dem Glauben, mit dem Wort Gottes, mit der Bibel und ohne die Bereitschaf,t den Glauben in den Alltag zu integrieren, kann der Glaube nicht wachsen und kann der Glaube oder das „Religiössein“ keine Kraftquelle sein.
Glaube braucht Wurzeln – innere Bereitschaft. Ja, Umkehr, Buße und Bekennen. So kann der Glaube wachsen und Früchte tragen in unserem Leben.

Ulrich Zwingli formulierte über den Glauben Folgendes:

Der Glaube ist eine Wirklichkeit, kein Wissen, kein Wahn oder Einbildung. Der Mensch empfindet also innerlich im Herzen den Glauben. Dann entsteht er, wenn der Mensch an sich zu verzweifeln und die Notwendigkeit, allein auf Gott zu vertrauen, einzusehen beginnt.

So war es auch bei Andreas. Bei dem ersten Jünger Jesu – wie Johannes in seinem Evangelium berichtet.
(Bei dem Evangelisten Matthäus war Petrus der erste, allerdings wird er – nach dem Bericht des Matthäus – gemeinsam mit seinem Bruder Andreas berufen. Da die Berufungsgeschichte nach Johannes etwas ausführlicher ist, ist anzunehmen, dass Andreas der erste der 12 Jünger war, die Jesus nachfolgten.)
Andreas war auf der Suche nach der Wirklichkeit des Glaubens, und inmitten dieses Suchens erlebt er die Begegnung mit Jesus.

Der Evangelist Johannes beschreibt diese Begegnung folgendermaßen:
Am Tag darauf stand Johannes wieder da und zwei seiner Jünger. Und als Jesus vorübergeht, richtet er seinen Blick auf ihn und sagt: Seht, das Lamm Gottes. Und die beiden Jünger hörten ihn so reden und folgten Jesus. Als Jesus sich umwendet und sie folgen sieht, sagt er zu ihnen: Was sucht ihr? Sie aber sagten zu ihm: Rabbi – das heisst ‘Meister’ , wo ist deine Bleibe? Er sagt zu ihnen: Kommt, und ihr werdet es sehen! Da kamen sie und sahen, wo er wohnt, und sie blieben an jenem Tag bei ihm. Das war um die zehnte Stunde. Andreas, der Bruder des Simon Petrus, war einer von den beiden, die auf Johannes gehört hatten und Jesus gefolgt waren. Dieser findet zuerst seinen Bruder Simon und sagt zu ihm: Wir haben den Messias gefunden! Messias heisst ‘der Gesalbte’. Er führte ihn zu Jesus. Jesus sah ihn an und sprach: Du bist Simon, der Sohn des Johannes, du sollst Kefas genannt werden! Kefas heisst ‘Fels’.
Johannes 1, 35-42

Liebe Gemeinde,
diese Stelle, die wir als Predigttext gehört haben, ist die allererste Stelle im Johannesevangelium, wo Jesus selbst zum Wort kommt. Davor wurde viel über ihn erzählt, aber Johannes lässt ihn erst hier ans Wort.
Merkwürdig ist allerdings dieses erste Wort – eine Alltagsfrage:
„Was wollt ihr?“, „Was sucht ihr?“

Stellen Sie sich vor, wie es wäre, wenn unser Begrüßungs- und Kollektendienst mit so einer jesuanischen Frage die zum Gottesdienst Kommenden empfänge – „was wollen Sie?, was suchen Sie“?

Dennoch trifft dieser Satz das Zentrum des Glaubens. Was suche ich eigentlich hier in der Kirche, in der Gemeinde, im Glauben? was suche ich in der Bibel?
Vorgefertigte Antworten auf meine Lebensfragen?
Beweise über die Existenz Gottes, oder Orientierung, Halt, Kraft mitten in den Krisen meines Lebens?

Andreas, dem ersten Jünger Jesu, wird diese Frage gestellt: was suchst du? Was willst du?
Und die Gegenfrage ist auch – für die heutigen Leser*innen – verblüffend: „Rabbi, wo wohnst du?“ Und Jesus zeigt es ihnen und sie bleiben bei ihm den ganzen Tag.
Aus den darauffolgenden Sätzen des Evangelisten Johannes wird es deutlich, dass Andreas auf eine grundlegende Glaubensfrage eine Antwort gefunden hat. „Wir haben den Messias gefunden, den Christus, das Zentrum unseres Glaubens“, erzählt er seinem Bruder, Simon Petrus.
Andreas hat eine theologische Vorgeschichte: Er ist einer der Anhänger Johannes des Täufers. Das bedeutet, dass Andreas nicht nur irgendein Fischer war wie viele andere, sondern ein sehr gläubiger Jude, der sich kritisch mit der jüdischen Tradition auseinandersetzte und intensiv danach fragte: wie kann Glaube gelebt werden, wie kann Friede und Gerechtigkeit entstehen, wie finde ich den Messias, der als der verheißene und erwartete Retter Israels diese Gerechtigkeit und den Frieden bringt?

Als Anhänger von Johannes dem Täufer ist anzunehmen, dass er sich schon vor Jesus taufen ließ. (Interessant, dass wir über die Taufe der Jünger Jesu nichts erfahren. In der Apostelgeschichte sind aber die Jünger diejenigen, die selber auf Jesu Namen die Menschen taufen.)

Andreas wusste was er sucht – und er findet sich in Christus.
Diese Begegnungsgeschichte ist die Geschichte über das Geheimnis des Gefunden-Werdens.

„Was wollen wir hier, was suchen wir hier“ – wir suchen nach Geborgenheit, nach Zuflucht, nach einer Heimat, wo wir uns geliebt und wertgeschätzt fühlen, wo wir mit allen unseren Stärken und Schwächen angenommen sind, wo mit uns gerechnet wird, wo wir uns nützlich fühlen können… was suchen wir hier – eine geistige Heimat.

Andreas und ein anderer Jünger von Johannes dem Täufer folgen Jesus und so entdecken sie, wo sie mit ihrem Glauben wohnen können. Dieses Entdecken braucht aber Zeit und intensive Beschäftigung mit dem Glauben, mit der Botschaft Jesu. Deshalb ist es für den Evangelisten Johannes wichtig, dass er erwähnt: „Sie blieben den ganzen Tag bei ihm…das geschah um etwa um die zehnte Stunde.“

Der erste Jünger Jesu, Andreas, steht für mich für Menschen, die sich intensiv mit dem Glauben auseinandersetzen. Die es wagen, kritische Fragen zu stellen. Die bereit sind, ihr Leben zu ändern und dem Glauben einen zentralen Raum in ihrem Leben einzuräumen.
Andreas verkörpert für mich einen Nachfolger Jesu, der weiß, der Mensch braucht feste Wurzeln – ja Verwurzeltsein im Glauben. Und diese Wurzeln waren im Fall von Andreas seine Taufe nach der Tradition Johannes des Täufers und seine Bereitschaft, Gott und seinem Wort einen Raum zu geben in seinem Leben.

Glaube braucht eine gewisse Grundlage – keine Indoktrination – sondern die Beschäftigung mit dem Wort Gottes, mit den Erfahrungen anderer Menschen und anderer Generationen, die Gott erfahren haben in ihrem Leben. Und aus dieser Gotteserfahrung Kraft, Trost, Mut zum Leben bekommen haben.

Der Jünger Andreas erinnert uns an diese wichtige Haltung: sucht und ihr werdet finden, klopft an und euch wird aufgetan.
Aber ihr müsst es natürlich wissen, wo ihr anklopft.
Daher braucht Glaube Wurzeln und ein lebenslanges Lernen und Studieren der Wege Gottes.

Gebe uns Gott, dass wir durch die Begegnung mit ihm in Jesus Christus das Gefundensein erleben und durch den Glauben gestärkt ermutigt unseren Weg gehen.

Amen