„Die ganze Welt läuft ihm nach …“
Johannes 12,12-19
Harald Kluge
12 Als am Tag darauf die grosse Volksmenge, die zum Passafest nach Jerusalem gekommen war, hörte, dass Jesus nach Jerusalem komme, 13 nahmen sie die Palmzweige und zogen hinaus, ihn zu empfangen, und riefen: „Hosanna, gepriesen sei, der da kommt im Namen des Herrn, der König Israels.“
14 Jesus aber fand einen jungen Esel und setzte sich darauf, wie geschrieben steht: „15 Fürchte dich nicht, Tochter Zion! Siehe, dein König kommt, sitzend auf dem Füllen einer Eselin.“
16 Dies verstanden seine Jünger zunächst nicht, aber nachdem Jesus verherrlicht worden war, da erinnerten sie sich, dass dies über ihn geschrieben stand und dass man ihm solches getan hatte. 17 Das Volk nun, das bei ihm gewesen war, als er Lazarus aus dem Grab gerufen und ihn von den Toten auferweckt hatte, legte davon Zeugnis ab. 18 Eben darum zog ihm das Volk entgegen, weil es gehört hatte, er habe dieses Zeichen getan. 19 Da sagten die Pharisäer zueinander: „Ihr seht, dass ihr nichts ausrichtet. Alle Welt läuft ihm bereits nach.“
Johannes 12,12-19
Liebe Gemeinde!
„Ihr seht, dass wir nichts ausrichten. Alle Welt läuft ihm bereits nach.“ So klingt das Eingeständnis in die eigene Unfähigkeit, eine ideologische Strömung noch aufhalten zu können. Die Pharisäer hatten damals bemerkt: Dieser Jesus und seine Anhängerschar waren mit einfachen Mitteln nicht mehr zu stoppen. Der Zug war abgefahren. Aber wieso kam es gerade in diesen Tagen damals zu diesem Massenphänomen rund um die Jesusbewegung?
Jesus hatte etwas getan, das man bis dahin für völlig unmöglich gehalten hatte. Er gab einem verstorbenen Menschen das Leben zurück. Jesus holte Lazarus nicht nur von der Schwelle des Todes wieder ins Reich der Lebenden. Nein. Die Familie rund um Lazarus, seine Schwestern Maria und Martha hatten ihn bereits in Leichentücher gehüllt. Lazarus lag im Grab.
Aber dann geschah das Unbegreifliche – und da sind wir heute in der gleichen Situation wie damals die Frauen, Männer und Kinder in Judäa – Lazarus wird wieder lebendig, wird auferweckt. Was tot geglaubt war, wurde quicklebendig, fassbar, anfassbar, angreifbar. Und die Gegner von Jesus ließen danach nichts unversucht, diesen wandelnden Beweis göttlichen Eingreifens aus der Welt zu schaffen. Lazarus musste verschwinden, noch einmal sterben, notfalls planten die Hohenpriester ihn zu ermorden. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Deshalb rannten die Menschen, oder sie humpelten, krochen junge und alte Jüdinnen und Juden diesem Jesus nach. Einmal im Leben wollten sie diesem Mann, über den viele Gerüchte im Umlauf waren, dass er der Messias ist, der Gottessohn, der Menschensohn, der verheißene König, der Befreier, der Heiler, der Prediger ist, ihm wollten sie nahe sein.
Und sie konnten ihm nahe sein – ich bin da schon ein wenig neidisch. Ich würde zwar nicht gerne damals gelebt haben. In Hinsicht der Gesundheitsversorgung, der Pensionsvorsorge, der allgemeinen politischen Lage möchte ich nicht mit jenen damals tauschen. Aber sie konnten ihn nahe der Stadt Jerusalem berühren, ihn auf dem Eselchen reiten sehen, ihn mit eigenen Augen betrachten, ihm mit den eigenen Ohren zuhören, vielleicht sogar die eine oder andere Frage stellen. Jesus kommt nach Jerusalem! Das verbreitet sich wie ein Lauffeuer, da will jeder dabei sein, es sehen, um sagen zu können: Ich war dabei!
Ich stelle mir das so vor, wie heute ganz Wien in Aufruhr gerät, wenn die Politpromis, die Hollywoodstars, die Societylöwinnen und Societylöwen oder die Rock-, Pop- oder Opernstars irgendwo auftauchen, beim Sacher oder beim Hilton und die Massen zusammenströmen, um ein Bild, ein Autogramm, ein zugehauchtes Küsschen abzustauben.
Warum strömen die Massen zusammen? Weil sie von einer besseren Welt träumen, weil sie von ihren Sehnsüchten auf ein besseres Leben und Zusammenleben getrieben werden. Es eint sie die Hoffnung und ihr Glaube an ihren GOTT, den GOTT Abrahams, Saras, Isaaks und aller Nachfolgerinnen und Nachfolger im jüdischen Glauben. Mit Jesus taucht für sie ein Silberstreif am Horizont auf in ihrem kargen traurigen tristen und trüben Leben. Sie litten unter der römischen Herrschaft, den römischen Soldaten, die sich nahmen, was und wen sie wollten. Es gab überall Krankheiten, Hungersnot, Ernteausfälle, kriegerische Scharmützel, Verbrechen. Um ein wenig dieses Gefühl der Verunsicherung zu vertreiben und um neue Hoffnung zu schöpfen, laufen sie, wie es Johannes in seinen Schriften schildert, rennen sie Jesus und seiner Anhängerschar entgegen. Sie schwingen Palmwedel, wie sie es bei einem König, einer Hoheit tun würden. Nur hier jubeln sie ihrem König der Herzen zu, dem Befreier, dem Heiler aller Krankheiten und Gebrechen und Behinderungen, dem, der Tote auferwecken kann, dem Sohn GOTTES, dem Menschensohn, der Wunder wirkt. Deshalb gab es auch hinter den Kulissen eine religiös-politische Verschwörung und deshalb überlegten die religiösen Führer, wie sie Jesus verhaften können. Beim Einzug in Jerusalem Stadt waren auch Pharisäer zugegen, ihm feindlich gesinnte Beobachter. Sie kratzten sich am Kopf: „Ihr seht, dass wir jetzt nichts ausrichten. Alle Welt läuft ihm bereits nach … noch.“ Die treibende Kraft bei der Gefangennahme von Jesus im Garten Gethsemane war der damalige Hohepriester Hannas. Dem hatte wiederum sein Schwiegersohn Kaiphas ausrichten lassen: „Es ist nützlich und wichtig, dass für das Volk und die jüdische Bevölkerung ein Mensch sterben soll.“ Ansonsten würde der Argwohn und der Zorn der römischen Besatzungstruppen alle Juden und Jüdinnen in der Stadt treffen können. Es waren unruhige aufrührerische Zeiten und Rom wollte 100%ig sicher gehen, dass es keine Aufstände gibt. Diese folgten dann erst etwa 20 Jahre später. Politisch und im religiösen Sinne stellte Jesus eine Gefahr dar und ist er es auch heute noch.
Was zeichnet politische Gefangene aus? Warum haben Machthaber solche Angst vor Oppositionellen? Weil sie, wie Jesus vor Pontius Pilatus, dem Statthalter von Jerusalem, auf dessen Frage: „So bist du ein König?“, antwortet: „Du sagst es: Ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich die Wahrheit bezeuge. Wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme.“
Wovor haben Herrscher und politische Führungen, aber auch religiöse Spitzen am meisten Angst? Vor der Wahrheit! Vor der Unruhe, die entsteht, wenn sich in den bestehenden Strukturen plötzlich Kräfte beginnen zu regen, die alles zu sprengen drohen. Jesus spricht die Wahrheit. Er zersprengt aber vorerst weder das politische System der römischen Herrschaft noch möchte er den jüdischen Glauben verändern. Ihm geht es einzig und allein darum, das Glaubensleben zu reformieren. Seine Auslegungen und Gleichnisse, seine Heilungen und Sprüche dienen einzig und allein dazu, uns Menschen zu zeigen und vorzuführen, was wahre Menschlichkeit im Sinne GOTTES meint. „Liebe GOTT!“ Daraus folgt aufgrund der Gottebenbildlichkeit, dass ich meine Nächsten lieben soll. Und wir wissen, das fällt schwer, scheint schier unmöglich. Wie schwierig klingt dann die weitere Schlussfolgerung: Liebe dann ebenso die Menschen in der Ferne – von denen du aus den Nachrichten erfährst – und sogar: Liebe deine Feinde! Und um es noch auf die Spitze zu treiben, heißt es: Gib dir Mühe, dich selbst zu lieben! Wer kann das schon außer den Selbstverliebten, denen wiederum die ersten beiden Liebesgebote schwerfallen.
Das sind alles nun keine neuen Gedanken. Das sind keine neuen Gebote, die Jesus predigt. Sondern wir finden sie bereits in den Geschichten der Bibel seit Anbeginn der ersten Begegnungen von Menschen mit GOTT, dem GOTT Abrahams, Saras, Isaaks, Jakobs, Ruths, Esters, dem GOTT von Mose, Mirjam und Aaron, dem GOTT von Josua und Salomo, dem GOTT Davids und dem GOTT all der kleinen und großen Propheten, dem GOTT von Maria und Joseph, dem Vater von Jesus. Jesus wurde ein Oppositioneller der damaligen Religionsführung, heute würden wir sagen der Kirchenleitungen und Oberhäupter von Religionen, weil diese sich augenscheinlich in Opposition zu GOTTES Führung begeben hatten. Es ging ihnen nicht um die Menschen, um die Bedürfnisse und die Gemeinschaft, sondern um Regeln und Gesetze. Heilen war zwar laut religiöser Lehre erlaubt, aber nicht am Ruhetag, dem Sabbath. Nahrungsmittel pflücken, wie es die Jünger getan haben, als sie hungrig durch die Felder wandelten, war am Sabbath verboten – und Jesus stellte klar: Die Gesetze sind für die Menschen und das menschliche Zusammenleben da.
Wir Menschen leben nicht einzig und allein, um diesen Regeln und Gesetzen und Vorschriften zu folgen. Aber oft tun wir so – Kleinkinder leben für die Krabbelgruppe und den Besuch im Kindergarten. Schülerinnen und Schüler haben oft den Eindruck, alles in ihrem Leben drehe sich nur noch um die Schule. Ihre Kindheit und Jugend müssen sie an den Regeln der Schule ausrichten. Die Kinder scheinen für die Schule, für Noten, Tests, Schularbeiten, Lerninhalte und Lehrplanziele dazusein. Dabei sollte doch die Schule für unsere Kinder da sein, die Kirche sollte für sie da sein und nicht sie für die Kirche. Und schlimm bestellt um eine Institution, ob Kirche, Religionsgemeinschaft, Schulen, Bildungseinrichtungen oder auch Gesellschaft und Staat ist es, wenn es heißt: Vorschrift ist Vorschrift! Vurschrift is Vurschrift!
Gesetzes-Irrsinn, Behörden-Schikane und absurde Vorschriften. Das mag eine beliebte Spielerei in Wiener Amtsstuben sein, oder gewesen sein … in Sachen der Religion und des Glaubens hat dieses Denken, so predigt Jesus mehrmals, nichts zu suchen. Jesus war Heiler, Arzt, und seine Arznei, sein Heilmittel hat mit göttlicher Kraft und Gottes Geist Kranke gesund gemacht, Hoffnungslosen neue Hoffnung geschenkt, Trauernden bei der Trauerarbeit geholfen, Verzweifelten neue Wege aufgezeigt … Weshalb sollte Jesus dann nicht auch in meinem Leben Wunder wirken können? Andere hat er geheilt, das wurde überall herumerzählt. Also kann er doch auch mich heilen, wenn nicht körperlich, dann gewiss seelisch, psychisch, von religiösem Wahn, in meinem Glaubensleben. Deshalb folgen wir Jesus doch heute noch. Weil wir hier – wie die Bewohner Jerusalems – jede Hoffnung daraufsetzen, hier kommt GOTTES Sohn, auf einem Eselchen sitzend. Nicht auf einem kräftigen Schlachtross reitet er ein, sondern ganz bescheiden und einfach mit einem Eselchen als Papamobil. Und ich bin beeindruckt, weil er niemanden niederreiten will, niemanden überrumpeln will mit einer Glaubenslehre. Wir können es erleben, wie stark und kräftig GOTT uns im Leben trägt. Darum laufen ihm die Menschen nach – bis heute. Und manchmal sind es mehr und nun werden es wieder weniger. Aber darauf kommt es nicht an.
Denn wie viele Menschen und Vertraute sind Jesus von diesem Hype um ihn herum schließlich geblieben? Wer ist ihm bis zum Kreuz nachgefolgt? Wer hatte die Kraft auch ihm Tod bei ihm zu stehen, es mit ihm durchzustehen? Beim Kreuz stehen und sehen ihm beim Sterben zu: Maria, seine Mutter, und die Schwester seiner Mutter, Maria, die Frau von Klopas, Maria aus Magdala und ein Lieblingsjünger, dessen Namen wir nicht kennen. Waren es bei dem Einzug von Jesus Tausende, so sind es schließlich vier Frauen und ein Mann, die ihm bis zum letzten Atemzug beistehen und nahe sind. Ruhm mag vergehen. Ruhm muss vergehen. Wir müssen Jesus nicht nachlaufen. ER ist hier.