„Was geht uns das an?“
Johannes 19,1-30
Harald Kluge https://www.youtube.com/watch?v=U7rdybe_1D8
Liebe Gemeinde! Es gibt sicherlich Fragen, die man sich stellen sollte, denen man sich stellen muss. Und eine davon lautet wie jene, die die Priester dem Judas, dem Verräter, gestellt haben, als der gemeint hat: Ich habe Unrecht getan. Es tut mir leid. „Was geht uns das an?“
…
„Die Soldaten nahmen Jesus und er trug selbst das Kreuz und ging hinaus zum Ort, der Schädelstätte genannt wird, das heißt auf Hebräisch Golgota. Dort kreuzigten sie ihn und zusammen mit ihm zwei andere, einen da, einen dort, Jesus aber in der Mitte. Pilatus hatte auch ein Schild schreiben und am Kreuz anbringen lassen, auf dem stand: »Jesus aus Nazaret, der König des jüdischen Volkes.« Viele Menschen aus seinem Volk lasen dieses Schild, weil der Ort, wo Jesus gekreuzigt war, nahe bei der Stadt lag. Es war hebräisch, lateinisch und griechisch geschrieben. Da sagten die jüdischen Hohenpriester zu Pilatus: »Schreibe nicht: ›der König des jüdischen Volkes‹, sondern: ›Er hat gesagt: Ich bin der König des jüdischen Volkes‹.« Pilatus antwortete: »Was ich geschrieben habe, habe ich geschrieben.«
Als die Soldaten Jesus gekreuzigt hatten, nahmen sie seine Kleider und das Unterkleid und teilten sie in vier Teile, für jeden der Soldaten einen. Das Unterkleid war ungenäht, von oben in einem Stück gewebt. Sie sagten zueinander: »Wir wollen es nicht zerschneiden, sondern losen, wer es bekommt.« Dies geschah, damit die Schrift erfüllt werde, die sagt: ›Sie haben meine Kleider unter sich aufgeteilt und über meine Kleidung das Los geworfen.‹ Das taten die Soldaten. Beim Kreuz Jesu standen aber seine Mutter und die Schwester seiner Mutter, Maria, eine Verwandte des Klopas, und Maria aus Magdala. Da sah Jesus seine Mutter und den Jünger, den er liebte, dastehen und sagte zu seiner Mutter: »Frau, hier ist dein Sohn.« Dann sagte er zum Jünger: »Hier ist deine Mutter.« Von der Zeit an nahm der Jünger sie zu sich.
Danach wusste Jesus, dass schon alles vollendet war. Damit die Schrift erfüllt werde, sagte er: »Ich habe Durst.« Ein Gefäß voll Essig stand da. Sie steckten einen Schwamm voll Essig auf einen Ysopzweig und brachten ihn an seinen Mund. Als Jesus den Essig bekommen hatte, sagte er: »Es ist vollendet.« Er senkte den Kopf und hauchte seinen Geist aus.
Liebe Gemeinde! Jesus haucht seinen Geist aus. Er segnet das Zeitliche oder wie wir sagen: Jesus, Gottessohn stirbt, dort am Kreuz, wo ihn alle sehen konnten. Sofern sie dort gewesen sind, konnten sie ihn sehen, auf diesem Hügel, Golgota, der Schädelstätte, die ihren Namen wohl von der Form eines Totenschädels erhalten hatte.
In diesem Hauch seines letzten Atemzuges schwang gewiss eine besondere Note mit. Denn die römischen Soldaten hatten Jesus einen Stab – Ysopzweige sind eigentlich zu wenig fest und zu biegsam, also wird es ein anderes Holz gewesen sein – sie hatten ihm einen Schwamm mit Essig, mit saurem Wein, mit Weinessig getränkt an den Mund geführt. Sollten Sie sich, liebe Gemeinde, bisher gefragt haben, wozu hatten denn die Soldaten dieses Gefäß mit Essig an den Ort der Kreuzigung gebracht, lassen Sie sich sagen: Die Wachen mussten nicht nur unter Aufbietung all ihrer Kräfte die Verurteilten an den Querbalken der Kreuze befestigen und diese dann hochwuchten, sie mussten auch Wache schieben, bis alle Gekreuzigten auch wirklich gestorben waren. Deshalb brachten die Militärs Wein mit, meist in Form von saurem Weinessig, billiger Fusel, aber trinkbar und alkoholisch. Sie spielten um die Kleidungsstücke und um Geld, um sich die Zeit zu vertreiben und wenn nötig die aufdringlichen Beobachter, Zuschauer, womöglich Freunde und Familien der Verbrecher zu vertreiben. Ganz so wie wir uns die Zeit vertreiben, bis eine unangenehme Angelegenheit endlich vorbei ist.
Deshalb ist es erstens erstaunlich, dass der Soldat dem Wunsch von Jesus nachkommt und ihm einen Weinessig an den Mund hochreicht. Zweitens ist es sehr frappierend, dass drei Frauen und ein Mann, die augenscheinlich Jesus kannten und nahestanden, es bis auf Rufweite zu Jesus geschafft haben. Maria, seine Mutter, und Maria, seine Tante, und Maria aus Magdala, seine Seelenverwandte, sowie dieser eine namenlose unbekannte Jünger, sein Lebensmensch, waren Jesus in den letzten Stunden und Momenten seines Lebens geblieben. Die anderen hatten zwar ihre Treue geschworen, aber in ihrer Nachfolge elendiglich versagt.
Was braucht ein Mensch am nötigsten? Sicherlich kommt es darauf an, in welcher Lebensphase wir sind. Am Beginn unseres Lebens, nach der Geburt brauchen wir Mitmenschen, Mama, Papa, Menschen, die es gut mit uns meinen. Und am Ende unseres Lebens brauchen wir auch Menschen, die es gut mit uns meinen. Oft genügt es, da zu sein. Und Maria, auf aramäisch Mirjam, mit ihrer Schwester Mirjam und der Mirjam aus Magdala und dieser eine Jüngling sind Jesus ganz nah. Mirjam als Name ist treffend, denn es bedeutet – „MEER“, „SEESTERN“ und passend: nun waren sie ein Meer der Tränen. Sie sind so nah, wie sie ihm nur sein konnten und sein durften. Es ist nicht ungefährlich gewesen, sich als Familienangehörige oder Bekannte eines verurteilten Verbrechers zu deklarieren. Die Soldaten hätten sie befragen, verhaften, zum Verhör schleppen können. Aber die drei Frauen und sein Lebensmensch blieben beim Kreuz, konnten Jesus zwar nicht die Hand halten, aber mit ihm gemeinsam das, was hier geschieht, aushalten.
Ein Trend der heutigen Zeit beweist, dass wir uns als menschliche mitfühlende Wesen über die Jahrtausende hier nicht geändert haben. Wir wollen wissen, wie wir anderen helfen können. Und viele absolvieren, oft gezwungenermaßen, oft aber auch freiwillig, Erste-Hilfe-Kurse. Dort lernen wir Menschen in Not zu helfen und sie zu retten. Vor wenigen Wochen haben wir in der Gemeinde auch einen Zivilcouragetrainingskurs des Mauthausenkomitees für die Jugendlichen der Gemeinde gehabt. Dort lernen wir Menschen zur Seite zu stehen, die durch andere Menschen in Not geraten, drangsaliert, beleidigt, verletzt, bedroht werden. Und eine starke Nachfrage gibt es für Letzte-Hilfe-Kurse, oft Hospizbegleitung, Sterbebegleitung genannt. Auch ohne medizinische Kenntnisse erlerne ich dabei, wie ich mit sterbenden Menschen, mit schwer erkrankten Menschen daheim oder auch an anderen Orten gut umgehen kann.
Bei all diesen Kursen lerne ich meine Unsicherheit – wie soll ich mich in dieser oder jener Situation verhalten – in etwas mehr Sicherheit zu verwandeln. Was kann ich tun und was sollte ich lieber lassen und nicht tun. Jesus bekommt einen Schwamm mit Weinessig als letzte Geste des Mitgefühls dieser Welt an die Lippen geführt. Das gilt auch heute noch als zärtliche und wichtige Geste. Gerüche und Geschmäcker, Getränke oder Speisen lassen mich in Erinnerungen schwelgen. Seine Mutter, seine Tante Maria und Maria aus Magdala und der von ihm geliebte Jünger sind ihm körperlich ganz nah, so nah wie es möglich ist. Auch enorm wichtig. Und Jesus kann für sich die Ungewissheit, was aus seiner Mutter wird, verwandeln in eine neue Beziehung, indem er den beiden aufträgt: Erkennt euch beide als Sohn und Mutter. Damit war seine Mutter abgesichert, nicht dem Schicksal einer armen Witwe ohne Sohn ausgeliefert. Er regelt mit seinen letzten Atemzügen, wie es für seine Mama weitergeht, wo der Jünger Familie findet.
In den Letzte-Hilfe-Kursen werden wir gnadenlos und freiwillig mit dem Sterben konfrontiert. Was kann in diesen Jahren, Monaten, Wochen, Tagen, Stunden, die wir etwa an der Seite einer sterbenden Person sind, nicht an Gutem geschehen. Wir haben, so wird mir vermittelt, nur auf die wichtigen Seiten des Lebens zu achten. Alles an negativer Energie, dumme Meldungen, schlechte Nachrichten, Missgunst, Vorwürfe soll ich mir schenken. Wie bei der Erste-Hilfe-Maßnahme gilt auch bei der Letzten-Hilfe, es gibt nichts, was ich falsch machen kann – außer nichts zu tun.
Wir alle können Menschen auf ihrem letzten Lebensweg begleiten, denn die Betroffenen brauchen am Ende vor allem eines: Zärtlichkeit, Zartheit, Zuwendung und Zeit. Und dazu ein bisschen Hausverstand, den wir durch einen Kurs, ein paar Abende oder Wochenenden zum Thema Begleiten am Lebensende, aufpäppeln können.
Die Frauen sind Jesus nah. Und ich frage mich: „Wo sind die Jünger?“ Wo ist denn Simon, der Fels, und wo sind Andreas, Jakobus und Johannes und wo sind all die anderen? Schlafen die ihren Rausch vom letzten Abendmahl mit Jesus aus? Zu den besten Zeiten hatte Jesus mindestens 84 Follower bzw. Jünger gehabt. 70 oder 72 davon hatte er einst ausgesandt zu predigen und zu heilen und Gottes Botschaft unter die Menschen zu bringen. Seine 12 engsten Vertrauten dazu genommen ergibt das eine stattliche Zahl an 82 oder 84 männlichen Weggefährten. Wie viel sind ihm in der Stunde seines Todes dann geblieben? Ein einziger. Der, den Jesus am liebsten hatte, war gekommen, hatte sich todesmutig mit den drei Frauen herangewagt ans Kreuz. Diese Frauen und dieser eine Namenlose waren mutiger als die anderen 81 oder 83 Mannsbilder. Diese drei Frauen waren bereit, Jesus und dem Tod ins Aug zu schauen, auszuharren, durchzuhalten bis zum Schluss, nah an seiner Seite. Sie haben Courage gezeigt – haben GOTT gezeigt: So sind wir!
„Was geht uns das an?“, mag man sich fragen. Was geht es uns an, wenn wir Schreie hören, den Notruf von Hungernden, tausender, zehntausender, hunderttausender, Millionen hungriger Kinder, Frauen und Männer? Was geht uns das an? Wenn sie Krieg führen, mit Bomben, Panzern, Raketen und Patronen Leben auslöschen, Leben bedrohen, Leben in vielen Regionen dieser Erde unmöglich machen. Was geht uns das an, wenn Jugendliche und Kinder auch hier bei uns sich nicht nur unsicher fühlen, wenn sie unterwegs sind in der U-Bahn, in der Straßenbahn, auf den Straßen. Wenn sie sich nicht nur unsicher fühlen, sondern auch Angst empfinden, weil sie bedroht werden könnten, eingeschüchtert werden könnten, durch die Medien eingeschüchtert und verängstigt sind? Was geht uns das an?
Ich denke, die meisten von uns hier stellen sich diese Frage nicht. Weil wir sie für uns selbst nicht beantworten müssen. Vielen kommt diese Frage „Was geht mich das an?“ seltsam vor. Und der, der sie gestellt hatte, der Priester, dem Judas das Geld zurückbringen wollte, der die Zeit zurückdrehen wollte, dem es unendlich leidgetan hatte, dass er Jesus ausgeliefert hatte.
„Was geht uns das an?“ „Das ist deine Sache!“, sagen die Priester noch zu Judas, bevor er weggeht und sich das Leben nimmt, weil ihm niemand vergibt, er sein Unrecht nicht gutmachen kann. Das ist meine Sache! Das geht mir nah! Das ist mir nicht egal, auch nicht wie es dem Judas geht.
Wir fühlen: Es geht uns etwas an! Und wir grübeln, was wir tun können, wie wir es besser machen können. Es geht uns etwas an, weil wir mitfühlen, auch mitleiden. Es stimmt: Niemand will Mitleid von anderen Mitmenschen bekommen. Aber den Schmerz eines anderen nachempfinden zu können, das kann ich nicht unterdrücken. Ich fühle mit dir, mit ihnen. Ich kann dich verstehen. Eigentlich sind wir doch alle als menschliche Geschöpfe auch immer schon Sterbende. Seit unserer Geburt und der Ankunft auf diesem Planeten, hoffentlich in den lieben Armen eines lieben Menschen, sind wir Sterbende.
„Denk daran, dass du einmal sterben wirst, und werde klug daraus!“ Wie jenen Menschen in ihrer letzten Lebensphase tut es auch uns gut, nicht allein sein zu müssen, wenn wir das nicht sein wollen. Es tut uns gut, als Sterbende, Mitmenschen um uns zu spüren, die uns guttun, denen wir guttun. GOTT steht am Beginn unserer Zeit hier auf Erden und GOTT begleitet uns durchs Leben und empfängt uns am Ende. Maria aus Nazaret und ihre Schwester Maria und Maria aus Magdala und der namenlose Jüngling haben ganz natürlich gespürt, dass es wichtig, dass es richtig war, da zu sein, auf der Schädelstätte, auf Golgota bei diesen drei Kreuzen, in diesen Stunden. Maria, seine Mutter, hatte Jesus ins Leben gebracht, durchs Leben begleitet und aus diesem Leben verabschiedet. Dieses schreckliche Erlebnis einer Mutter, die ihr Kind leiden und sterben sieht, wird oft nicht in den Blick genommen. Im letzten und vorletzten Jahr und dem Jahr davor habe ich ganz nah miterlebt, was hier Mütter durchstehen, durchleiden, mitleiden … Eine Frau, die ihren Sohn auf die Welt bringt, ihm das Wichtige im Leben beibringt, ihm die Freiheit schenkt, der zu werden, der er sein soll, und ihn dann zu erleben in tiefster Not und in tiefstem Elend, gebrochen, gefoltert, gepeinigt, verhöhnt, im Sterben … Maria stand es durch und wird später auch mit ihrer Schwester an der Seite zu einer Botin der frohen Nachricht von der Auferstehung.
Aber noch scheint und ist alles verloren. Aus und vorbei ist es mit dem Anbruch des Gottesreiches, dem Hereinbrechen des Friedensreichs, der Befreiung, der Rettung und Erlösung des jüdischen Volkes. Aus und vorbei ist es mit der Rettung der ganzen Welt. Erloschen ist das Licht, das gekommen war, um in der Dunkelheit zu scheinen und das Dunkle zu vertreiben. Seinen Jüngern und engen Freunden und der ganzen Anhängerschar muss mulmig zumute gewesen sein.
Der Jubel vom Einzug in Jerusalem auf dem Eselchen nur wenige Tage zuvor war verflogen. Die Euphorie der Massen, hier kommt der König, ihr König, der Befreier, ihr Befreier, war schlagartig ausgelöscht. Mit jedem Schlag der römischen Soldaten mit dem Hammer, mit dem sie die Nägel durchs Fleisch des zum Tode Verurteilten trieben, um ihn ans Kreuz zu schlagen, muss es für die Jünger Jesu und für alle, die daran geglaubt hatten, wie eine heftige Ohrfeige gewesen sein. Wacht auf! Wacht auf! Jetzt wacht endlich auf! Es kommt ganz anders als ihr denkt.
Und es kam ganz anders, als sie alle dachten. Der Schmerz in dieser Todesstunde war nicht auszuhalten, die Trauer war unermesslich, die Hoffnung erloschen, die Liebe tat weh und der Glaube, ja der Glaube … nur GOTT hatte es jetzt noch in der Hand – wie immer, GOTT hat es in der Hand all das zu verwandeln. Und GOTT handelte. Und GOTT handelt.