Lukas 6, 36-38
Aus der Bergpredigt Jesu: 36Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist!
37Richtet nicht, und ihr werdet nicht gerichtet. Verurteilt nicht, und ihr werdet nicht verurteilt. Lasst frei, und ihr werdet freigelassen werden! 38Gebt, und es wird euch gegeben werden: ein gutes, festgedrücktes, gerütteltes und übervolles Mass wird man euch in den Schoss schütten. Denn mit dem Mass, mit dem ihr messt, wird auch euch zugemessen werden.
Liebe Gemeinde,
wir haben zwei biblische Stellen gehört: in der Lesung die Geschichte des verlorenen Sohnes (LESUNG: Lk 15,11-32 ) und als Predigttext ein Zitat aus der Bergpredigt Jesu.
Beide Textstellen stammen vom Evangelisten Lukas. Aus diesen Textstellen wird eindeutig, was den Evangelisten Lukas in seinem Evangelium besonders beschäftigt: Barmherzigkeit. Barmherzigkeit ist ein biblischer, theologischer Schlüsselbegriff. Ein Schlüsselbegriff zum gelingenden Leben.
Ich lade Sie ein, mit mir gemeinsam diese uralte Geschichte über den verlorenen und gefundenen Sohn zu entdecken. Diese bewegende Geschichte mit ihren Akteuren, die uns dazu einladen will, dass wir nicht nur unser Gottesbild neu bedenken, sondern damit auch unsere menschlichen Beziehungen, unsere Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung.
Happy End – ein gutes Ende hat diese Geschichte – zumindest für den Vater und für den „verlorenen Sohn“. Ich würde aber noch gerne mehr über den empörten älteren Bruder erfahren… konnte er auch vergeben? Konnte er seinen Vater verstehen und mitfeiern?
Der verlorene Sohn hatte schon Glück mit so einem Vater! Aber mit dem Bruder? Seine Heimkehr endete gut, er bekam neue Chance von seinem Vater, er wurde – wie neugeboren.
Liebe Gemeinde,
Wie oft wünschen wir uns bei unseren belastenden Alltagsgeschichten so eine gute Wende, so ein Happy End. Dass alles wieder gut wird, dass sich Schuld und Fehler wiedergutmachen lassen, dass der Neuanfang nach einem Scheitern möglich wird und dass bei Reue anstelle von nachtragenden Vorwürfen der Anderen mit Vergebung und Ermutigung geantwortet wird.
Der verlorene Sohn hatte Glück gehabt mit seinem barmherzigen Vater.
Er kam mit leeren Händen, selbstverschuldet, demütig zu ihm zurück. In einem Zustand, den niemand für sein Kind wünschen würde. Erbe, viele Chancen, Geld, dazu vielleicht auch seine eigene Würde hat er aufs Spiel gesetzt und vergeudet. Jahrelang, jahrzehntelang gab er von sich kein Lebenszeichen. Hat er nur an sich selbst gedacht? Hatte er nie ein schlechtes Gewissen gehabt für den Kummer, den er seinen Eltern verursacht hatte? – und der Vater nahm ihn an, und noch mehr, der Vater feierte ihn, seine Rückkehr, seine „Auferstehung“.
Die Geschichte, die Jesus erzählt, ist nur ein Gleichnis, keine wahre Geschichte, wir spüren jedoch, wie viel Realität heute noch in dieser Geschichte steckt.
Realität der familiären Beziehungen wie in den folgenden drei Fällen:
– wie viel Hoffnung, Erwartungen in die Kinder und in die Jugendlichen seitens der Eltern, der Familie, ja auch der Gemeinde gesetzt werden. Eltern geben – im Normalfall – ihre Kinder nie auf… welcher Vater würde seinem Sohn nicht vergeben, wenn dieser mit aufrichtiger Reue bei ihm um Lebenshilfe ansuchen würde…
– Realität, dass Vergebung, Versöhnung innerhalb einer Familie nicht einfacher – im Gegenteil, noch herausfordernder ist – wie dies am Beispiel des älteren Sohnes im Gleichnis gezeigt wird.
– Die Eltern, Erzieher, Familie haben nur eingeschränkt Einfluss und Kontrolle über ihren eigenen Kindern. Behütete Kindheit ist keine Garantie dafür, dass der Jugendliche später mit den Herausforderungen des Lebens klarkommt. Verzweifelt fragen sich Familien, Pädagogen: was kann denn nur Garantie sein? Wie kann Erziehung gelingen?
Aus dem Gleichnis lese ich heraus, dass das Gelingen des Lebens aus mehreren Faktoren besteht:
aus dem Erkennen: wie bei dem verlorenen Sohn. Er musste erkennen und einsehen, dass ihm seine Lebensführung kurzzeitig viel Spaß, aber langfristig viel Leid verursacht hatte. Die Fehler einzugestehen, anzunehmen ist sehr schmerzhaft – aber er nimmt sein Schicksal an und versucht das noch zu retten, was noch zu retten ist. Sein Ziel ist dabei: irgendwie zu überleben, wenn auch nur als Tagelöhner des eigenen Vaters, alles ist besser als das Elend, das auf ihn hereingebrochen ist.
Er steht zu seinen Fehlern und ist bereit, die Konsequenzen auf sich zu nehmen – eine solche Haltung beschreibt für mich dieses Gleichnis, wenn ich mir die Gestalt des verlorenen Sohnes anschaue.
Nicht Ansprüche hatte er, nur Hoffnung. Und diese führte ihn zurück zu seinem Vater.
Wie der Vater reagiert, seine grenzenlose Barmherzigkeit – ist überwältigend, beinahe übermenschlich. Ohne Streit, ohne Vorwürfe, den Sünder annehmen, den Sohn, der ihm so viel Schmerz, so viel Kummer, so viel Ärger und so viel Sorge bereitet hat, einfach annehmen und in die Arme schließen… ist so eine Haltung überhaupt möglich?
Sehr realistisch erscheint hingegen das Verhalten des älteren Sohnes. Mit Eifersucht, Hass, Misstrauen begegnet er dem „Loser“ , dem „abtrünnigen“ Bruder. Was will er bloß hier? Wie kann er erwarten, dass all das, was er angerichtet hatte, sich so schnell gutmachen lässt? Wird er jetzt auch uns, seine Familie pleite gehen lassen? Und wenn er aus seinen Fehlern nicht gelernt hat, und irgendwann wieder beginnt, nur an sich selbst zu denken? Er kann es nicht fassen, dass der Vater sogar ein Fest feiert für den, der ihm so viel Ärger, so viel Kummer, so viele Probleme bereitet hat… ihm, der immer da war, der ihm immer zur Seite stand, hat er nicht einmal eine Ziege geschlachtet, damit er mit seinen Freunden ein bisschen feiern hätte können… wie unfair ist das denn?!
Irgendwie haben wir auch Verständnis für sein Verhalten: denn sein Gedankengang ist uns nicht fremd.
Welche Perspektive wir auch immer einnehmen, dürfen wir eines nicht vergessen:
wer, wo und wann dieses Gleichnis erzählt hatte. Der Evangelist Lukas legt die Geschichte Jesus in den Mund (obwohl dieses Gleichnis vermutlich viel älter ist und nicht unbedingt aus dem christlich-jüdischen Kulturkreis stammt – eine Variante dieser Geschichte soll 400 Jahre vor Jesus auch Buddha erzählt haben).
Aus dem Kontext zu entnehmen ist, dass die Zuhörerschaft Jesu aus seinen Kritikern bestand, aus den Schriftgelehrten und Pharisäern, die ihn ständig für seine Tischgemeinschaft mit den Zöllnern kritisiert haben.
Im Hintergrund war die Auseinandersetzung mit Jesus komplexer:
– es ging hier um die veralteten Gottesvorstellungen von einem zornigen und strafenden Gott – Jesus widerspricht diesen Vorstellungen.
– Es ging um den Umgang mit der jüdischen Tradition und der jüdischen Vorstellung von rein-unrein; gerecht-ungerecht. Das Gleichnis soll Jesus zunächst als Verteidigung seiner Jünger erzählt haben, die von Beruf Zöllner waren. Jesus hinterfragte die religiöse Praxis seiner Religion und die daraus entstammenden gesellschaftlichen Ordnungen, Sitten, Verhältnisse.
Durch seine provozierende Geschichte legte Jesus dar, dass vor Gott (und somit auch für das Gelingen des Lebens) nicht die Herkunft zählt, nicht das, woher du kommst, was du vorher alles warst oder eben nicht warst. Vor Gott zählt deine Bereitschaft: ob du für einen Neuanfang bereit bist. Für den Neuanfang, den Gott dir im Glauben möglich macht.
Niemand kann dir die Glaubensgemeinschaft mit Gott absprechen oder dich aus der Gemeinde ausschließen, wegen deiner Vorgeschichte. Vor Gott zählt, ob du den Neubeginn mit ihm wagst, ob du sein Angebot im Glauben annimmst.
Eine bewegende Geschichte. Heute noch. Eine zeitlose Geschichte, denn sie bietet mehrere Perspektiven an, in die man sich hineinversetzen und aus denen man das Geschehen beobachten kann.
Aus der Perspektive des verlorenen Sohnes,
des barmherzigen Vaters
aber auch des mürrischen, misstrauischen und unbarmherzigen Bruders.
Die Gestalt des Vaters erinnert mich an die Aufforderung Jesu in der Bergpredigt: Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!
37Richtet nicht, und ihr werdet nicht gerichtet. Verurteilt nicht, und ihr werdet nicht verurteilt. Lasst frei, und ihr werdet freigelassen werden! 38Gebt, und es wird euch gegeben werden: ein gutes, festgedrücktes, gerütteltes und übervolles Maß wird man euch in den Schoss schütten. Denn mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird auch euch zugemessen werden.
Das Verhalten des Vaters lässt mich immer wieder fragen:
wo habe ich diese Barmherzigkeit erfahren?
Und generell: können Menschen heute noch diese Barmherzigkeit in unseren Kirchen, Gemeinden finden? Ist diese bedingungslose Annahme des Nächsten praktizierbar?
Bei der Gestalt des verlorenen Sohnes wird betont, dass seine Rückkehr eine ganzheitliche Umkehrgeschichte war. Ein tief erschütterter Mensch kehrt zurück zu sich, zu seinem Gott und zu seinen Mitmenschen – ein Mensch, der sein ganzes Leben überdenken musste, alle seine Beziehungen, Möglichkeiten, Chancen – wie er sich sieht, ist für sich selbst schockierend. Rückkehr ist mit Erkenntnis verbunden. Selbsterkenntnis: wer bin ich wirklich? Was habe ich getan? Wie konnte ich mich selbst aufgeben und mich ausliefern lassen der Körperlichkeit?
Wichtig ist, dass in dieser Erkenntnis eine Hoffnung schimmert: der verlorene Sohn sucht nach Neubeginn. Der Neubeginn ist aber sehr eng mit Reue, Buße und vor allem Bekehrung verbunden. Bekehrung zu sich selbst und zu seinem Vater, zu seiner Familie… es ist seine letzte Chance.
Im realen Leben ist es oft schwieriger: zurückkehren, Schuld gestehen, sich entschuldigen. Warum dies oft nicht geschieht oder nicht geschehen kann, hat meistens (aus meiner Sicht) mit der Angst zu tun. Angst davor, was danach passieren wird, wie werde ich eventuell mit der Ablehnung klarkommen; mit den unerträglichen Vorwürfen; mit den nachtragenden Kommentaren; mit Misstrauen – damit, dass es mir nicht vergeben wird… werden sie mir glauben, mir vergeben?
Wie die beiden Brüder miteinander umgegangen sind, ob der Ältere seinem Bruder verzeihen konnte – erzählt Jesus nicht. Er ordnet alle diese Fragen der Barmherzigkeit des Vaters unter.
Im Gleichnis wird aber klargestellt, seitens des Vaters an den älteren Sohn, dass durch die Rückkehr des jüngeren Bruders sich an seiner Stellung nichts ändert. Er wird vielmehr dazu aufgerufen – dessen bewusst zu werden, was er hat: nämlich alles, was er zum Leben braucht. „Alles, was mir gehört, gehört auch dir“, E
erinnert ihn sein Vater und lenkt seine Aufmerksamkeit darauf, dass diese Stunde die Stunde der Barmherzigkeit und der Freude ist und nicht der Ausgrenzung.
Liebe Gemeinde,
das Gleichnis Jesu will uns immer wieder daran erinnern, dass Gott nicht ein Gott meiner Wünsche ist, dass Gott nicht ein Gott meiner Vergleiche ist. Gott ist die offene Tür auch für Menschen, von denen ich meine, dass sie niemals offene Arme verdient hätten. Denn Gott will es immer, dass unser Leben gelingt. Amen