„Ein Mensch sieht, was vor Augen ist; der HERR aber sieht das Herz an.“ 1 Samuel 16,7
Liebe Gemeinde,
Sie sehen zwei Bilder vor dem Abendmahlstisch.
Wenn Sie die Möglichkeit hätten, die Fehler oder die Fehlstellen auf diesen Bildern zu markieren, wo würden Sie denn ein Kreuz setzen?
Vielleicht auf der Brücke? Diese gehört mehr mittig… oder auf dem Wasserfall? Der ist viel zu monumental dargestellt?
Oder zu den Wänden der Kirche? Diese sind nicht gerade, etwas krumm vielleicht?
Suche die Fehler auf den Bildern – es ist eine beliebte Rätselaufgabe nicht nur für Kinder…
Welche Fehler fallen dir auf! Welche Unterschiede?
Präzises, aufmerksames Hinschauen wird dabei gefördert. Eine sehr wichtige Übung in bestimmten Bereichen des Lebens!
Doch mir kommt manche zwischenmenschliche Begegnung auch so vor, als würden wir unsere Augen nur auf die Fehler der Anderen lenken.
Ah, wie sah sie denn wieder aus?
Ah, wie hat er wieder über seine Erfolge geredet – so ein Angeber….
Ah, wie unerzogen seine Kinder sind…
Ah, wie sieht dieser Kuchen aus?
Ah, wie sieht hier denn dieser Garten aus?
Ah, diese Jugend hängt nur am Handy…
Ah, das hättest du doch anders machen sollen… ah, das hättest du machen sollen…
… Sie können die Reihe solcher und ähnlicher „Ah“-Sätze bestimmt ergänzen…
nichts gegen vernünftige und angebrachte Kritik, aber ich habe manchmal das Gefühl, dass wir im Fehlerfinden und Unterschiede-Suchen sehr gut sind.
Ähnlich ging es auch dem Propheten und Richter Samuel. Er hat von Gott den Auftrag bekommen, den neuen König zu finden. Er wird zu Isai geschickt. Isai zeigt ihm seine sieben Söhne, einer ist schöner als der andere – doch Samuel wählt keinen von ihnen als König aus. Er erinnert sich an das Wort Gottes:
»Sieh nicht auf sein Aussehen und seine große Gestalt!
Ich habe ihn nicht in Betracht gezogen.
Denn bei mir zählt nicht, was ein Mensch sieht.
Der Mensch sieht nur auf das Äußere,
der Herr aber sieht auf das Herz.«
Hast du nur sieben Söhne, Isai? Nein, ich habe noch den David, den jüngsten, er hütet Schafe und vergeudet seine Zeit immer nur mit dieser Harfen-Musik…
Als der Sohn Nr. 8, David, der Hirtenjunge, vor ihm steht, will Samuel seinen Augen nicht trauen: er, der Hirtenjunge, der nicht nur jung, sondern auch etwas klein ist? Gott, das kann doch nicht dein Ernst sein? Er kann schön Harfe spielen, aber ein König braucht doch andere Talente… Aber in diesem Moment hörte Samuel die Stimme Gottes:
„Salbe ihn“… denn ein Mensch sieht, was vor Augen ist; der Herr aber sieht das Herz an. – Und Samuel salbte David zum Nachfolger von König Saul.
Und die weitere Geschichte ist uns bekannt:
Zunächst wird David an den Hof von König Saul berufen, denn Saul hörte davon, dass David Harfe spielen kann. König Saul hatte immer wieder mit schwierigen psychischen Problemen zu kämpfen, und ein bekanntes Heilmittel dafür war schon im alten Orient die MUSIK. Denn schon die Könige in den alten Zeiten wussten die therapeutische Wirkung von Musik zu schätzen. Und David war ein ausgezeichneter Harfenspieler. Saul, der König, schätzte David sehr, nicht nur für seine Musik. Er wurde sogar zum Waffenträger des Königs Saul. Danach wird David zu einem großen Helden: Mit der kleinen Steinschleuder in der Hand besiegt er den Riesen, Goliath. Etwas Geschick, Mut, und durch das Ergreifen der Möglichkeit konnte David beweisen, dass Gott etwas mit ihm vorhat, dass Gott ihm zur Seite steht.
Diese Episode der David-Erzählung ist eine der ermutigenden Geschichten der Bibel und weist daraufhin, wie oft wir Menschen nur einseitige Betrachter des Lebens sind. Wie oft wir nur das erfassen können, was für das Auge offensichtlich ist. Und dieses führt dazu, dass wir manchmal viel zu wenig erkennen – wie am Anfang Samuel bei David, oder der eigene Vater, Isai: sie sahen in ihm nur einen noch unreifen Burschen, der seine Zeit mit Schafen und Harfe vergeudet…
Einseitiges Betrachten kann aber auch dazu führen, dass wir Situationen, Ereignisse oder eben Personen überbewerten, wie es bei Goliath der Fall war. Der Riese war angsteinflößend, keiner von den Soldaten wagte den Kampf mit ihm. Außer David, der Hirtenjunge…
Durch solche Geschichten will uns die Bibel sehen lehren. Sehen mit anderen Augen. Mit dem Auge Gottes, des Schöpfers. Jesus hat uns dieses Sehen auch in vielen seiner Geschichten und Gleichnisse vorgelebt. Sehen mit dem Auge Gottes heißt, mehr erfassen als nur die Oberfläche, als nur die Äußerlichkeiten, hinter alldem das Herz sehen.
Ich möchte jetzt wieder zu den Bildern zurückkommen, die Sie hier, vor dem Abendmahltisch sehen können.
Über das beeindruckende Bild (bzw. über die Bilder) von der Brücke mitten in der Natur bin ich mit unserer Malgruppe ins Gespräch gekommen. Sie versammelt sich einmal im Monat im Gemeindesaal und vertieft sich in der Sprache und im Gestalten der Bilder.
Ich habe sie nach der Bedeutung dieses Bildes mit der Brücke gefragt und sie erzählten mir, dass hier mehr zu sehen ist als nur eine wunderschöne Natur.
Hier, in der Mitte, ist sogar Christus zu sehen, der die Brücke ist über den Abgründen des Lebens. Eine Brücke, der die unterschiedlichen Seiten – wie katholische und evangelische miteinander verbindet; eine Brücke, die alles zusammenfügt, was zusammengehört – wie die unterschiedlichen Menschen in einer Gemeinde …
Jedem und jeder ist etwas Schönes und Erbauendes zu diesem Bild eingefallen.
Während wir uns über das Bild ausgetauscht haben, habe ich gespürt, was für die Maler und Malerinnen dieser eine Vormittag im Monat bedeutet: er bedeutet mehr, als ein Bild fertigzustellen. Er bedeutet viel mehr: Austausch, Gemeinschaft, und das Lernen mit den Augen der anderen zu sehen. Mehr zu erfassen als nur die Oberfläche, als nur das Äußere.
Natürlich sollten wir uns auch davor hüten, eine Situation, einen Weg, oder einen Menschen überbewerten. Mit dem Herzen sehen heißt, nicht viel zu wenig aber auch nicht übermäßig viel mehr zu sehen, als es wirklich ist.
Dazu habe ich für Sie heute zum Schluss eine kleine Anekdote mitgebracht[1]:
Die Fähigkeit des Fehlersuchens nutzte einmal ein Professor der Kunstschule aus und beauftragte seine begabteste Schülerin, die kurz vor ihrem Studienabschluss stand, mit folgender Aufgabe:
Deine Aufgabe ist es, ein Bild zu malen, das dein bis dahin hervorragendstes Werk darstellen soll.
Sobald du fertig bist, nimm das Bild und bring es zum Marktplatz und hänge es so auf, dass alle es sehen können. Hänge zusätzlich ein Schild daneben, auf das du schreibst, dass jede und jeder, der auf dem Bild einen Fehler entdeckt, die Stelle mit einem Kreuz markieren darf. Denn du bist für jede Rückmeldung und Beurteilung sehr dankbar.
Die Schülerin tat so, stellte das Bild mit einem Schild aus und wartete ein paar Stunden an einem anderen Platz. Als sie zu ihrem Bild zurückkam, wurde ihr Herz schwer. Es war voll mit kleinen Kreuzen und Markierungen.
Sie ging zu ihrem Meister zurück, er sagte aber nichts dazu, sondern beauftragte die Schülerin mit einer weiteren Aufgabe.
Dieses Mal sollte die Schülerin das Bild wieder ausstellen zur allgemeinen Betrachtung und Beurteilung, nun mit dem Hinweis, dass jede und jeder, die einen Fehler entdeckt, diesen ab sofort korrigieren darf mit dem beigelegten Pinsel und Farbe.
Nach ein paar Stunden, als die Schülerin zu ihrem Bild zurückkehrte, fand sie das Bild genauso vor, wie sie es hingestellt hatte.
Fröhlich und erleichtert ging sie zu ihrem Meister zurück, der ihr mit einem Lächeln Folgendes sagte:
„Nun hast du die letzte Lektion gelernt, die du lernen musstest. Und die Lehre ist folgende: Immer wird es Menschen geben, die deine Werke beurteilen. Das erste Bild war voll mit Kreuzen, weil viele gerne ein Wörtchen mitreden wollen, wenn sie die Möglichkeit dazu bekommen, auch wenn sie überhaupt keine Ahnung von der Materie haben.
Dein zweites Bild war völlig ohne Kreuze, nachdem in diesem Fall auch das Können und die Geschicklichkeit der Betrachtenden und Beurteilenden selbst gefragt waren.
Darum: wenn du deine Seele, deine Begabung und dein Herz in ein Werk hineingelegt hast, so fälle dein eigenes Urteil.
Du gibst dem Werk seinen Wert, das können alle Betrachter der Welt dir nicht
wegnehmen. Und vergiss nicht: dasselbe gilt auch, wenn du das Lebenswerk eines anderen beurteilen sollst.“
Liebe Gemeinde,
wir sind heute neu eingeladen dazu, uns selbst und den Mitmenschen neben uns mit dem Auge Gottes anzusehen. Möge uns Gott dabei unterstützen, dass wir nicht nur die Fehler, die Unterschiede bei den Anderen (aber auch bei uns selbst) suchen, und bemerken, sondern den Nächsten, wie ein Werk Gottes, wie den Wirkungsraum Gottes wahrnehmen können.
Denn Gott hat jede und jeden von uns als einzigartig und wunderbar geschaffen.
Dessen dürfen wir immer bewusst sein und bleiben. Amen