„Was ist der Mensch?“ Jesus Sirach 18,8-18 von Harald Kluge (Kant 4. Teil)
8 Was ist der Mensch? Wozu ist er nütze? Was ist das Gute und was das Böse an ihm? 9 Die Zahl der Tage eines Menschen kann viele Jahre betragen – vielleicht hundert. Niemand aber kann den Todesschlaf berechnen. 10 Wie ein Tropfen Wasser im Meer und wie ein Körnlein Sand, so gering sind des Menschen Jahre gegen einen Tag der Ewigkeit. 11 Darum hat der Herr Geduld mit ihnen und gießt seine Barmherzigkeit aus über sie. 12 Er sieht und weiß, wie bitter ihr Ende ist; umso reichlicher schenkt er seine Versöhnung. 13 Die Barmherzigkeit eines Menschen gilt allein seinem Nächsten; aber die Barmherzigkeit des Herrn gilt der ganzen Welt. Er weist zurecht, erzieht und belehrt und führt zurück wie ein Hirte seine Herde. 14 Er erbarmt sich aller, die sich erziehen lassen und eifrig seine Ordnungen befolgen.
15 Mein Kind, wenn du jemand Gutes tust, so tu’s nicht mit tadelnden Worten; und wenn du jemand etwas gibst, so kränke ihn nicht dabei. 16 Kühlt nicht der Tau die Hitze? So ist das Wort besser als die Gabe. 17 Gilt nicht ein Wort mehr als eine gute Gabe? Und ein freundlicher Mensch gibt sie beide. 18 Ein Narr schmäht lieblos, und eines Böswilligen Gabe führt zu Tränen.
Liebe Gemeinde!
Was ist der Mensch? Was isst der Mensch? Naja, darf es eine gebratene Seezunge mit Rucola, Petersilie und Zwiebelringen sein? Oder lieber Garnelen im Tontopf mit geriebenem Kasar-Käse bestreut und in einer Gemüsemischung aufgetischt?
„Kant kocht türkisch, Türkische Köstlichkeiten aus Immanuel Kants Königsberg“ zum 300. Geburtstag publiziert liefert passend zum Jubiläumsjahr viele köstliche Rezepte mit köstlichen passenden Zitaten des Philosophen.
Nach meiner zweiten Predigt zu Kants vier philosophischen grundlegenden Fragen im Vergleich zu biblischen Texten wurde mir das von meiner lieben Schwester überreicht. Und es ist mehr als nur ein köstlich-witziges Kochbuch.
Wir erleben Kant von einer anderen, seiner kulinarischen Seite. So hat er wie der Reformator Martin Luther gerne bei Tisch mit vielen Gästen lange und ausgiebig diniert und dabei launische und tiefgründige Gespräche geführt. Seine Tischreden sind wohl ähnlich legendär wie jene Martin Luthers.
„Allein zu essen ist für einen philosophierenden Gelehrten ungesund.“ In Gesellschaft zu speisen ist immer besser.
Damit hätten wir die erste Antwort auf die Frage: „Was ist der Mensch?“ bereits gefunden:
Der Mensch is(s)t ungern alleine.
Denn allein würde es uns an Ansprache, an Austausch, an feurigen Dialogen und pfeffrigen Aussagen mit Publikum fehlen. Immanuel Kant, geboren 1724 und gestorben 1804 in Königsberg, hatte Juristen, Kriegsräte, Schriftsteller, Physiker, Bibliothekare, Mathematiker, Orientalisten, Theologen, Ärzte, Pfarrer, Händler bei Tisch zu Gast und eines Tages auch einen steirischen Grafen Gottfried Wenzel von Purgstall.
Der österreichische Graf Wenzel beschwerte sich danach öffentlich über das gemeinsame Essen, weil Kant unaufhörlich redete und schwatzte und alles besser zu wissen glaubte. Selbst über Wenzels Heimat, die Steiermark und Graz, wollte ihn Kant belehren. Aber Wenzel war nichtsdestotrotz beeindruckt von manchem Detailwissen des gefeierten Philosophen.
Eine Antwort schwingt in der Frage Kants „Was ist der Mensch?“ gleich mit.
Ein Tier mit zwar überdurchschnittlicher aber nicht so hoher Lebensdauer.
Denn der Belugastör (120), die Seychellen-Riesenschildkröte (150), der Buckelwal (120), Blauwal (110), Finnwal (120) können länger leben, wenn wir es zulassen. Und der Grönlandhai mit unglaublichen 400 Jahren Lebenserwartung übertrifft uns sowieso alle.
Im Reich der Schwämme darf man sich aber nicht umsehen. Da gibt es Arten, die 10.000 Jahre alt werden können.
Kant hatte früh beschlossen und auch festgehalten, dass er ein langes Leben führen wollte. Und dazu nutzte er das damals populäre Buch eines Arztes Christoph Wilhelm Hufeland „Die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern.“ Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Schiller, Johann Gottfried Herder und Christoph Martin Wieland zählten ebenso zu den Fans dieser Lebensweise. Erster Ratschlag: „Wer alt werden will, esse langsam!“
Und ein Gast berichtet über Kant „Er aß nicht nur mit Appetit, sondern mit Sinnlichkeit. Der untere Teil seines Gesichts, die ganze Peripherie des Kinnbackens drückte die Wollust des Genusses auf eine unverkennbare Weise aus.“
Jesus selbst meinte ja einmal zu seinen Jüngern, sie sollen sich nicht um den morgigen Tag sorgen. Lebe im Hier und Jetzt, und wenn es passt, dann lass dir auch einmal Gutes tun. So kann man die Salbung mit Öl durch Maria aus Magdala verstehen.
Was ist der Mensch?
„Der Mensch ist das einzige Tier, das arbeiten muss.“ So simpel und scharf formuliert Kant es in seiner Schrift „Über Pädagogik“ (1803). Und seit Hunderten Jahren, vielleicht sogar Tausenden von Jahren, trifft diese Beschreibung von uns Menschen des Pudels Kern.
Schon GOTT selbst wird in den Mund gelegt, der Mensch sei für die Arbeit geschaffen. (Genesis 3)
„7 Zu Adam sagte GOTT: »Statt auf mich hast du auf deine Frau gehört und von den Früchten gegessen, die ich euch ausdrücklich verboten hatte. Deinetwegen soll der Ackerboden verflucht sein!
Dein ganzes Leben lang wirst du dich abmühen, um dich von seinem Ertrag zu ernähren. 18 Du bist auf ihn angewiesen, um etwas zu essen zu haben, aber er wird immer wieder mit Dornen und Disteln übersät sein. 19 Du wirst dir dein Brot mit Schweiß verdienen müssen, bis du stirbst. Dann wirst du zum Erdboden zurückkehren, von dem ich dich genommen habe. Denn du bist Staub von der Erde, und zu Staub musst du wieder werden!«
20 Adam gab seiner Frau den Namen Eva (»Leben«), denn sie sollte die Stammmutter aller Menschen werden. 21 Gott, der HERR, machte für die beiden Kleider aus Fell und legte sie ihnen an. 22 Dann sagte GOTT: »Nun ist der Mensch geworden wie wir, weil er Gut und Böse erkennen kann. Auf keinen Fall darf er noch einmal zugreifen und auch noch von dem Baum essen, dessen Frucht Leben schenkt – sonst lebt er ewig!« 23 Darum schickte GOTT sie aus dem Garten Eden fort und gab ihnen den Auftrag, den Ackerboden zu bebauen, aus dem GOTT sie gemacht hatte. 24 So kam es also, dass die Menschen aus dem Garten vertrieben wurden.“
Und auch für Kant war es klar: Ein Mensch solle, müsse arbeiten – damit er und sie sich entwickeln kann. Ohne Arbeit kommen wir unserer Pflicht nicht nach, bleiben oberflächlich, ungeschliffen, unausgereift.
Wenn ich mir heute anschaue, wie wir Kindern erklären, warum sie zur Schule gehen und studieren und Ausbildungen in Lehre und Fachschulen machen müssen, folgen wir damit genau dieser Sichtweise. Der Mensch ist das einzige Tier, das arbeiten muss, um zu leben, sich zu entwickeln, um geformt zu werden.
Und bei den Christengemeinden galt, wie Paulus in einem Brief an die Gemeinde in Thessaloniki schreibt (2 Thess 3,10): „Schon damals haben wir euch den Grundsatz eingeschärft: Wer nicht arbeiten will, der soll auch nicht essen.“
Der geplagte Mann Hiob spricht die leidige Seite der Arbeit offen aus (Hiob 7):
„1 Das Leben der Menschen gleicht der Zwangsarbeit, von früh bis spät müssen sie sich abmühen! 2 Ein Landarbeiter sehnt sich nach dem kühlen Schatten am Abend; er wartet darauf, dass ihm sein Lohn bezahlt wird. 3 Und was ist mein Lohn? Monate, die sinnlos dahinfliegen, und kummervolle Nächte!“
Aber es gibt selbstverständlich Pausen – oder sollte es ausreichend geben. Kant schreibt: „Drei Dinge helfen, die Mühseligkeit des Lebens zu tragen: Die Hoffnung, der Schlaf und das Lachen.“
Und ich muss zugeben, mir missfällt der Gedanke, den uns der Predigttext aus der apokryphen alttestamentlichen Schrift bei Jesus Sirach bietet.
„8 Was ist der Mensch? Wozu ist er nütze? Was ist das Gute und was das Böse an ihm?“
Wozu sind wir nütze? Wer mag sich hier ein Urteil erlauben, außer Gott selbst? Eine solche utilitaristische, ethische Sichtweise, dass wer nützlich sein kann, mehr Wert hätte, mehr Aufmerksamkeit genießen soll, als wer das nicht ist und nicht kann, finde ich geradezu unchristlich. Das gefällt mir nicht.
Und es hat mich erstaunt und überrascht mich immer wieder, dass gerade Einrichtungen der Bildung, etwa auch die Diakonie der evangelischen Kirchen, die herausragenden Leistungen von Schülerinnen und Schülern prämiert, hier die grandiosen Leistungen ausgezeichnet und genannt werden. Was ist der Mensch?
Ein Wesen, das nicht nach dem Nutzen fragt! Denn wir alle tragen, ob nützlich für andere oder nicht, einen unendlichen Wert an Menschenwürde und Gottesebenbildlichkeit in uns. Das Nützliche, das Beeindruckende, die große Leistung sollte nicht in den Vordergrund gezerrt werden. Da fühle ich mich im reformierten Denken auch wohl, das eher die Bescheidenheit und Zurückhaltung predigt und nicht dazu aufruft, sich als Star in der Menge, als Erfolgreicher unter Erfolglosen, als Überflieger unter Tiefgründlern hochleben zu lassen.
Für Kant ist der Mensch ein vernunftfähiges Wesen. Für viele heute mag das wie eine Illusion und realitätsfern klingen. Es wird heutzutage wieder und immer noch so viel Leid unnötig fabriziert. Kriege oder kriegerische Konflikte, Dispute gewaltsam und gewaltlos gibt es über 370 an der Zahl auf allen Kontinenten. Dazu erleben wir Streitigkeiten in den Familien, in der Nachbarschaft. Und dabei wüssten wir Menschen an sich, was gut und wichtig und richtig ist.
„Wir können nach Prinzipien leben, die wir uns selbst gegeben und auf die wir uns geeinigt haben“, schreibt Kant. Unser Leben hat genau den Wert, den wir uns selbst geben, unabhängig von der Natur. Und nach der weltweit geltenden Menschenrechtskonvention ist diese Menschenwürde absolut und wir können sie nicht verlieren.
Dem würden wir aus christlicher und jüdischer Sicht vielleicht entgegnen, dass GOTT uns diese Würde zuallererst verleiht als seinen geliebten Geschöpfen. Aber Kant und die Bibel treffen sich in der Ansicht, dass wir es nicht aus uns selbst heraus schaffen. Denn wenn wir anfangen, anderen ihre Würde abzusprechen, Menschen zu entmenschlichen, wäre das eine Welt, in der ich zumindest nicht mehr leben möchte. Gut, ich würde darum kämpfen, dass sich das wieder ändert, solange ich kann.
Was kann ich wissen?
Was soll ich tun?
Was darf ich hoffen?
Was ist der Mensch?
Ein Wesen ständig in Gefahr sein Menschsein, seine Humanität zu verlieren.
Für Kant enthält die Frage nach unserem Menschen alle drei anderen voraus gestellten Fragen. Denn wir streben nach Wissen, immer mehr Wissen, immer mehr vernetztem Wissen. Wir glauben und hoffen und können, das ist auch biblisch legendenhaft begründet, zwischen Gut und Böse, Richtig und Falsch unterscheiden. Das mag nicht immer eindeutig zuordenbar sein, aber selbst zwischen Grautönen können wir differenzieren.
Wir können uns moralisch und gut verhalten. Wir lernen im besten Fall aus unseren Fehlern, denken aus der Vergangenheit heraus, mit der Gegenwart in die Zukunft hinein. Dichtung, Literatur und Philosophie, die Künste und Technik und Wissenschaft lassen immer neu Theorien und Modelle entstehen für die Erklärung der Welt und unseren Platz in ihr.
„Der Ziellose erleidet sein Schicksal – der Zielbewusste gestaltet es.“ Und füllt es mit Arbeit.
Warum sollte der Mensch denn nun arbeiten? Ist es die wirtschaftliche Notwendigkeit, zu der wir womöglich gegen unseren Willen gezwungen werden, um ein Gehalt zu verdienen. Damit wir zu anderer Zeit die Freizeit genießen, die wir uns in gewisser Weise erkauft haben?
Unser Freiheitsspielraum besteht darin, dass wir die Fähigkeit haben, eine bequemere oder interessantere Arbeit zu wählen, d. h. eine Arbeit, die uns entgegenkommt.
Kant sieht die Arbeit als echte Pflicht im moralischen Sinne.
Kant fragt kokett, was wäre mit Adam und Eva passiert, wenn sie im Paradies geblieben wären. Hätten sie mehr getan als Hirtenlieder gesungen und die Natur genossen?
„Langeweile würde sie gewiss (…) gemartert haben.“ Und er fügt hinzu, dass der Mensch durch Arbeit „okkupiert“ sein müsse. Das bedeutet, dass das, was als göttliche Strafe angesehen wird, eher als Segen betrachtet werden sollte, der es dem Menschen ermöglicht, sich vor der Nichtigkeit eines müßigen und eitlen Daseins zu retten.
Wir arbeiten also um Langeweile zu vermeiden, uns die Zeit zu vertreiben und der Leere des menschlichen Daseins zu entfliehen. Die Arbeit macht uns nicht unbedingt glücklich, aber sie verleiht uns Würde. Durch eine Arbeit können wir einer bestimmten Auffassung von Menschlichkeit gerecht werden. Und da sind Hausarbeit, Heimarbeit, Hofarbeit, Büroarbeit und alle anderen Tätigkeiten, ob bezahlt oder unbezahlt, und innerhalb des moralischen Wertekanons mit eingeschlossen. Und was ist dann mit der Ruhe und den Pausen, wie sie ja auch GOTT selbst nach der Schöpfung in sechs Werktagen sich erlaubt hat? Hier ist Kants Antwort klar: Die einzige schätzenswerte Erholung ist diejenige, die am Ende der Arbeit als deren Belohnung steht.
Was ist der Mensch? Der Mensch ist, was er ist. Der Mensch ist, was er isst. Kant selbst hat diese Frage übrigens letztlich nicht beantworten wollen … und meistens sind es doch die Fragen, die wichtig sind und weniger die Antworten, die andere uns darauf geben wollen.