“Die Weisheit Gottes beschützt uns.”

Prediger 7, 10-25 mit Pfr. Kluge

Youtube-Audio

Frag nicht: »Warum war früher alles besser?« Damit zeigst du nur, wie wenig Weisheit du besitzt. Weisheit ist so wertvoll wie ein reiches Erbe, sie ist für jeden Menschen auf dieser Welt ein Gewinn. Sie bietet so viel Sicherheit wie Geld, ja, sie schenkt sogar noch mehr: Wer die Weisheit besitzt, den erhält sie am Leben.

Halte dir vor Augen, was Gott tut! Wer kann gerade machen, was er gekrümmt hat? Wenn es dir gut geht, dann freu dich über dein Glück, und wenn es dir schlecht geht, dann bedenke: Gott schickt dir beides, und du weißt nie, was die Zukunft bringen wird.

In meinem vergänglichen Leben habe ich viel gesehen: Manch einer richtet sich nach Gottes Geboten und kommt trotzdem um; ein anderer will von Gott nichts wissen, aber er genießt ein langes Leben. 

Sei nicht allzu fromm und übertreib es nicht mit deiner Weisheit! Warum willst du dich selbst zugrunde richten?

Sei aber auch nicht gewissenlos und unvernünftig! Warum willst du sterben, bevor deine Zeit gekommen ist? Es ist gut, wenn du dich an beides hältst und die Extreme vermeidest. Wer Ehrfurcht vor Gott hat, der findet den richtigen Weg.

Weisheit beschützt einen Menschen mehr, als zehn Machthaber einer Stadt ihm helfen können. 

Doch es ist kein Mensch auf der Erde so gottesfürchtig, dass er nur Gutes tut und niemals sündigt.

Hör nicht auf das Geschwätz der Leute; dann hörst du auch nicht, wie ein anderer über dich lästert! 

Du weißt genau, dass auch du schon oft über andere hergezogen bist.

Ich habe versucht, dies alles mit meiner Weisheit zu erforschen; ich wollte Einsicht erlangen, aber sie blieb mir unerreichbar fern. Was geschieht, kann man nicht ergründen – es ist tief verborgen und nicht zu verstehen. Trotzdem bemühte ich mich mit aller Kraft, Weisheit zu erlangen und den Dingen auf den Grund zu gehen. Ich wollte wissen, ob Gottlosigkeit auf Unwissenheit beruht und ob mangelnde Einsicht mit Verblendung zusammenhängt.

Prediger 7, 10-25

Liebe Gemeinde! Liebe Mitmenschen!

Ich mag solche tiefgründigen Menschen. Und bei dem Prediger, der hebräisch eben Kohelet genannt wird, finde ich es faszinierend, dass wir ihm beim Denken zuschauen, also mitlesen können. Er ist gebildet, aber nicht eingebildet. Er lebt durchaus im Wohlstand, aber er hinterfragt die damit einhergehende Verantwortung. Und er wirkt nicht gerade ausgeglichen und glücklich.

Er ist ein Getriebener, ein Grübler, ein Skeptiker und Zweifler und lebt am Abgrund der schieren Verzweiflung. Weil er einfach nicht mehr mitansehen möchte oder ertragen kann, wie dumm und grausam, wie unehrlich und hinterhältig der Mensch sein kann und ist, deshalb dreht sich in ihm eine Gedankenspirale, die uns beim Lesen auch oft aus der Bahn werfen kann.

Wie lassen sich diese Gedanken, die in einer Zeit bis vor 3.000 oder 2.400 Jahren entwickelt wurden, erklären, wie wirken sie in unserer heutigen Zeit?

Schon der Anfang dieses Gedankengangs des Predigers bringt mich zum Staunen: „Fragt nicht: »Warum war früher alles besser?«

Schon vor drei Jahrtausenden waren sich die Leute sicher: „Früher hätte es das nicht gegeben!“

Wenn gestern ein 23jähriger Mann mitten am helllichten Tag in der Villacher Innenstadt mit einem Messer auf seine Mitmenschen einsticht, ist das wieder mal ein unvorstellbares grausames Verbrechen. Es macht sprachlos und fassungslos. Wenige Tage zuvor war es ja schon in der Münchner Innenstadt zu einem schrecklichen Anschlag gekommen, als ein 24jähriger Mann mit seinem Auto in eine Menschenmenge gerast ist.

Solche Attacken sind widerlich. Ich bekomme es da mit der Angst zu tun und denk mir: Genau, das ist Terror, das wollen Terroristen, Angst auslösen und verbreiten.

Das ist wie bei der Krake, oder wohl eher wie bei einem Pilz, der sich ausbreitet und wächst und wächst und wächst.

Der Prediger hatte es auch mit Terroristen zu tun gehabt. Attacken auf Mitmenschen waren gang und gäbe. Kriege und Kämpfe, Raub und Mord, Lust an Gewalt und dem Zufügen von Schmerzen, und von vielem Schlimmen mehr spricht er in seinen Texten.

In München gibt es jetzt 40 Opfer und ein zweijähriges Mädchen und seine Mutter sind bisher gestorben. In Villach wird ein 14jähriger Jugendlicher ermordet und vier weitere Passanten verletzt.

Was ist da los?

Früher hat es das so nicht gegeben – oder etwa schon? Oder ist es nicht egal, ob es jetzt besonders arg ist, denn es geht doch drum, das zu verhindern oder gut damit umzugehen.

Der Prediger rät:

Wenn wir uns die Vergangenheit, oder manches aus der Vergangenheit und der Geschichte zurückwünschten, dann wäre das nicht gerade weise.

In jeder Situation, bei jedem Vorfall brauche es eigene Lösungen und Antworten. Auf frühere Verhaltensmuster zurückzugreifen oder gar darauf zurückzufallen, wie man früher damit umgegangen ist, helfe da doch nix.

Wie ein Mann in der Innenstadt gestern leise aber doch schon hörbar gemeint hat: „Unter dem und dem hätte es das nicht gegeben.“

Mehr Härte des Gesetzes, mehr Einschränken der Bürgerrechte, der Menschenrechte, der Kinderrechte.

Wozu noch der Menschenrechtecharta folgen? Dabei hat die doch mit dem jetzt nichts zu tun. Es war heute vor 500 Jahren, dass es zu einem wegweisenden Durchbruch in Sachen Menschenrechte gekommen ist. Durch die gesellschaftlichen Entwicklungen auch in den Ideologien rund um die Reformation wollten gerade die ärmsten und stark unterdrückten Bauern auf ihre Rechte als Gottes Geschöpfe drängen. Sie wollten frei sein und sich mit dem fürs Leben Nötigsten versorgen dürfen und nicht länger der Willkür der Herrschenden und Reichsten unterworfen sein.

Am 16. Februar 1525 verlangen 25 zu Memmingen in Schwaben zählende Dörfer von der Reichsstadt und dem Schwäbischen Bund Verbesserungen hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen, sozialen und religiösen Situation. Die Bauern, Kleinbauern und Großbauern lassen Zwölf Artikel dazu verfassen und legen diese ihren Lehensherren vor. Während des stattfindenden grausamen Bauernkriegs verbreitet sich mithilfe des Buchdrucks diese Schrift in Windeseile. Der Text gilt heute als eine der ersten Erklärungen von Menschen- und Freiheitsrechten der Welt.

Ist es weise, sich ein Leben zu wünschen, in dem ich selbstbestimmt meine Arbeit und meinen Lebensmittelpunkt wählen darf. Und ist es weise, in einer sicheren Gesellschaft leben zu wollen. Sicherlich ist die Weisheit ein Wegweiser hin zu allem, was Leben fördert, wachsen und sich entwickeln lässt. Weisheit wendet sich gegen jede Art von Lebensbehinderung und Verhinderung, sie steht auf der Seite des Lebendigen, nie auf der des Tötenden oder Mordenden.

„Weisheit ist so wertvoll wie ein reiches Erbe, sie ist für jeden Menschen auf dieser Welt ein Gewinn. 

Sie bietet so viel Sicherheit wie Geld, ja, sie schenkt sogar noch mehr: Wer die Weisheit besitzt, den erhält sie am Leben.“

Weisheit verlängert mein Leben, in der Hinsicht, dass sie mir ein echtes Leben ermöglicht.

Das, was wirklich Leben heißt, mit offenen Augen und Ohren und Mund mich dem Leben zu stellen, wie wir sagen, das Leben auskosten, schmecken, spüren, fühlen. Natürlich wissen wir, dass Menschen in Armut eher krank werden und früher sterben.

Und der Glaube an Gott lässt uns nicht länger leben, aber intensiver, wahrhaftiger kann es dann schon sein, das Leben.

„Halte dir vor Augen, was Gott tut! … Wenn es dir gut geht, dann freu dich über dein Glück, und wenn es dir schlecht geht, dann bedenke: Gott schickt dir beides, und du weißt nie, was die Zukunft bringen wird.“

Karl Valentin hat es einmal so in einer Redewendung gesagt:

„Ich freue mich, wenn es regnet, denn wenn ich mich nicht freue, regnet es auch.“

Nun war auch er nicht immer gerade ein Sonnenschein, aber ein Weiser war er ja schon irgendwie. Und der Prediger sagt ja auch nicht: „Freu dich über dein Glück und wenn es dir schlecht geht, freu dich auch …“ Aber denk dran, es kann auch wieder anders werden, und lass dich ja nicht in diesen gedanklichen Teufelskreis hineinziehen: „Gestern war es schon schlecht, heute ist es noch schlechter, also wird es morgen …“

Du weißt nie, was die Zukunft bringen wird. Nicht gerade weise aber wahr.

Und dann muss unser Prediger eine ganz schwierige Erfahrung verdauen: Die guten Menschen leben leider auch nicht länger.

Wir können uns noch so sehr an Gottes Gebote und religiösen Vorschriften halten wollen, es wird uns keine Sekunde mehr an Lebenszeit bringen. Also vielleicht ja, aber sicher sein kann ich mir da nicht.

Viele wollen von Gott nichts wissen, können mit Glauben nichts anfangen, leben in den Tag hinein und nur nach den eigenen Wünschen, vielleicht sogar rücksichtslos und genießen so ein langes Leben. Sie machen sich keine Gedanken über Moral oder Regeln oder Gesetze und haben nicht mal ein schlechtes Gewissen dabei.

Deshalb gibt der Prediger den einfachen Rat:

„Sei nicht allzu fromm und übertreib es nicht mit deiner Weisheit! Du könntest dich selbst damit zugrunde richten.“

Er warnt davor, sich besser zu fühlen und sich von religiösen Regeln und Glaubensritualen quälen zu lassen. Beides sollte zu keiner Sucht werden, weder das fromme ernsthaft religiös geführte Leben noch die Suche nach Wissen, nach Erkenntnis und Weisheit.

Unser Leben sollen wir wohl irgendwie auch leicht, nicht verbissen führen, uns nicht zugrunde richten.

„Sei aber auch nicht gewissenlos und unvernünftig! Es ist gut, wenn du dich an beides hältst und die Extreme vermeidest. Wer Ehrfurcht vor Gott hat, der findet den richtigen Weg.“

Halte dich an die gesunde Mitte, den mittleren Weg. Wenn wir Gott ernst nehmen – wiederum nicht zu ernst – werden wir die richtigen Wege finden. Da schimmert so eine Art von Leichtigkeit, einer unbeschwerten Leichtigkeit des Seins durch, die jede schmerzhafte Einengung selbst durch den Glauben als ungünstig ansieht.

Die Weisheit mag uns beschützen – „mehr, als zehn Machthaber einer Stadt uns helfen können“ – nicht, weil sie uns unverwundbar macht. Sie ist kein Schild gegen Pfeile, hält keine Messerattacken oder Autorasenden auf.

Aber mit Weisheit, Klugheit, Weitsicht und Nachsicht, Aufmerksamkeit, Achtsamkeit … all das schwingt bei der Weisheit mit … das verhilft mir womöglich, Situationen besser einzuschätzen, mit einem weisen Weitblick darauf zu schauen.

„Hör nicht auf das Geschwätz der Leute; dann hörst du auch nicht, wie ein anderer über dich lästert! Du weißt genau, dass auch du schon oft über andere hergezogen bist.“

Warum hier an dieser Stelle gerade die Warnung vor Lästereien und hinterlistigem falschen Geschwätz folgt, kann nur eins bedeuten: Das hat es auch schon immer gegeben und am besten versucht man drüber zu stehen, oder daneben oder jedenfalls weit weit weg davon.

Wir versuchen, wie der Prediger damals, alles mit unserer Weisheit zu erforschen. Wir wollen verstehen und nachvollziehen können, warum und weshalb etwas geschehen ist und geschieht. Wir wollen Einsicht erlangen und nicht mehr im Dunkeln tappen, nur Fragen stellen, ohne Antworten zu finden, ohne Lösungsansätze auszumachen. Das verbindet uns Menschen über Altersgrenzen und Datumsgrenzen, über die Jahrtausende und über die Kulturgrenzen und auch religiösen Grenzen hinweg.

Der jüdische Prediger sucht und hinterfragt die Weisheit, wie es Jesus oder auch Paulus und Simon und alle Denkerinnen und Denker tun. So wie wir uns alle als Menschen fragen, wie sollen wir mit dem, was geschieht, umgehen?

Der Prediger resümiert vor 3.000 Jahren: Egal wie sehr ich mich auch anstrenge, die Weisheit bleibt mir unerreichbar fern. 

Was geschieht, kann ich nicht vollständig ergründen – es ist tief verborgen und nicht zu verstehen. Trotzdem bemühen wir uns, sicher nicht alle von uns, mit aller Kraft, Weisheit zu erlangen und den Dingen auf den Grund zu gehen. Leider gibt es viele, viel zu viele Mitmenschen, die wissen, was gut und richtig wäre, sich aber dadurch nicht davon abhalten lassen, auch Gottloses zu tun.

Und ja es ist gottlos, einen Menschen mit dem Wunsch zu töten, anzufahren, einen Mitmenschen mit dem Wunsch zu töten niederzustechen. So wie es gottlos ist, Menschen nach ihrer Herkunft oder Hautfarbe oder Sprache oder ihrem Aussehen, ihrem Alter, ihrem Geschlecht hin vorab schon einmal zu verurteilen. Beides ist nicht gerade weise.

Prediger 1, 17Dann dachte ich darüber nach, was die Weisheit eigentlich ausmacht und worin sie sich von Unvernunft und Verblendung unterscheidet.

Doch ich musste erkennen: Wer das begreifen will, kann genauso gut versuchen, den Wind einzufangen! 

Denn je größer die Weisheit, desto größer der Kummer; und wer sein Wissen vermehrt, der vermehrt auch seinen Schmerz.

Wissen ist schmerzvoll. Nichtwissen manchmal auch, aber seltener. Trotzdem lasst uns weiterhin nach der Weisheit suchen. Irgendwie zahlt es sich dann doch aus.