Harald Kluge
„Ich lass Konfetti für dich regnen“
Markus 7, 31-37
Liebe Gemeinde!
Wo Menschen sich vergessen, geben sie sich nicht zufrieden, finden sie sich nicht ab mit der Situation oder der Lage, in der sie oder in der auch andere sind. Wenn ich sage: „Ich vergess mich gleich!“, dann heißt das: Ich möchte, nein, ich verlange, dass sich etwas ändert. Auch Gott hat sich vergessen und sein Sohn Jesus hat auch dieses Gefühl gekannt: „Ich vergesse mich gleich!“ Und Jesus konnte einen enormen Unterschied machen, überall wo er hingekommen ist. In einer Geschichte ist Jesus mit seiner Jüngerschar unterwegs.
Jesus verließ die Gegend von Tyrus, zog in die Stadt Sidon und von dort weiter an den See Genezareth, mitten in das Gebiet der Zehn Städte. Dort wurde ein Mann zu ihm gebracht, der taub war und kaum reden konnte. Man bat Jesus, dem Mann die Hand aufzulegen und ihn zu heilen. Jesus führte den Kranken von der Menschenmenge weg. Er legte seine Finger in die Ohren des Mannes, berührte dessen Zunge mit Speichel, sah auf zum Himmel, seufzte und sagte: »Effata.« Das heißt: »Öffne dich!« Im selben Augenblick wurden dem Taubstummen die Ohren geöffnet und die Zunge gelöst, so dass er wieder hören und normal sprechen konnte. Jesus verbot den Leuten, darüber zu reden. Aber je mehr er es untersagte, desto mehr erzählten sie alles herum. Denn für die Leute war es unfassbar, was sie gesehen hatten. »Es ist einfach großartig, was er tut!«, verbreiteten sie überall. »Selbst Taube können wieder hören und Stumme sprechen!«
Markus 7, 31-37
Gestern war übrigens ihr Tag! Der Tag derer, die nicht oder nur schwer hören. Das gestrige Doodle von Google hat den französischen Gehörlosenpädagogen Ferdinand Berthier gefeiert. Jean-Ferdinand Berthier wurde am 30. September vor 220 Jahren in Frankreich in Louhans geboren und er starb mit 82 Jahren in Paris. In seinem Leben hat er sich für eine Gruppe von Menschen eingesetzt, die damals noch belächelt wurde und die auch heute leider oft diskriminiert wird. Selbst erwachsene Menschen, die nur schlecht oder kaum oder gar nicht hören konnten, wurden wie Kleinkinder behandelt. Man nahm sie nicht ernst, hat sie bevormundet und kaum jemand hat sich die Mühe gemacht, mit ihnen in ein Gespräch zu treten. Jean-Ferdinand Berthier war ein Kämpfer, einer der sich vergessen konnte, wenn er miterlebte wie herablassend Menschen, Erwachsene und Kinder, mit Gehörlosen umgegangen sind. Der Kampf für die Rechte der Gehörlosen wurde für Berthier zur Obsession, zur Lebensaufgabe. Und damit eine Verständigung gelingen konnte, engagierte er sich vehement für die Verbreitung der Gebärdensprache. Mit Berthier bekam die Inklusion, die Hereinnahme von Gehörlosen in die Gemeinschaft und Gesellschaft einen Boost, einen Impuls, der bis heute anhält.
„Me being deaf isn’t the problem.“ So lautet ein berühmtes Zitat und weist auf das eigentliche Problem hin. Dass es keinen normalen Umgang miteinander gibt, bei dem es wurscht ist, ob einer von uns taub, blind, stumm ist, dass wir es noch immer nicht in den Schulen etwa lernen, als etwas ganz Selbstverständliches, wie wir damit ganz natürlich und selbstverständlich umgehen. Wissen Sie übrigens wie viele Gebärdensprachen es weltweit heute gibt? Man geht ja von ein bis zwei aus. Es sind 137 unterschiedliche Gebärdensprachen mit noch mehr Dialekten. Ein Mensch wird eben nicht dadurch definiert, ob er gut hören, schlecht hören oder gar nicht hören kann. Ebenso wenig wie sich jemand darauf reduzieren lässt, ob er oder sie gut spricht, wenig spricht oder gar nicht spricht.
Zu Jesus bringen die Menschen damals in Israel auch nicht ihre Blinden, Tauben und Stummen. Sondern die Bibel weist darauf hin, es werden Menschen, ein Mann, eine Frau, ein Junge oder ein Mädchen zu Jesus gebracht oder er zu ihnen hingebracht. Und wenn Jesus etwas für sie tun kann, dann macht er es einfach – weil er es als Gottes Sohn kann. Ich kann keine Blinden wieder sehend machen. Meiner Spucke, meinem Speichel fehlt es an so einer magischen Kraft. Jesus steckt die Finger in die Ohren des Mannes und wie nach einer – bitte immer vorsichtigen – Reinigung mit Wattestäbchen kann dieser Mann hören wie noch nie. Er hat danach keine Bohnen mehr in den Ohren. Wenn Jesus Menschen die Hände auflegt, also ganz sacht auflegt, dann hat niemand mehr Tomaten – oder wie man in Wien sagt “Paradeiser” – auf den Augen.
Jesus öffnet uns die Augen, reinigt uns die Ohren und löst uns die Zunge. Denn wir können sprechen auch ohne Worte auszusprechen. Wir können hören, auch wenn unsere Ohren keine Schwingungen verarbeiten können. Wir können sehen, auch wenn wir nichts sehen und wir mit Blindheit geschlagen sind.
Eine Frau, amerikanische Schriftstellerin, taub, stumm und blind, war Helen Keller. Sie starb vor 55 Jahren und hat trotz ihrer Beeinträchtigung – durch eine Krankheit in der Kindheit verlor sie ihren Sehsinn, und ihr Gehör – einen Universitätsabschluss als erste taub-stumm-blinde Frau gemacht. Helen Keller hielt Vorträge zu Pazifismus, inmitten von kriegerischen Zeiten, propagierte den Sozialismus, als sich kaum jemand um die menschenunwürdigen und verachtenden Lebensbedingungen der Arbeiter und Arbeiterinnen scherte. Sie trat als Menschenrechtlerin auf und tat vieles, um die Situation von Frauen und Mädchen anzuklagen und für Verbesserungen zu kämpfen. Helen konnte sich sehr oft vergessen und dann wie eine Löwin fighten. Auch wenn sie nur schwer zu einer Stimme gefunden hat, ist sie bis heute eines der lautesten Sprachrohre für alle, die sonst leicht vergessen werden. Bevor sie am 1. Juni 1968 mit 81 Jahren im Schlaf verstarb, soll sie gesagt haben:
“Ich bin blind, aber ich sehe; ich bin taub, aber ich höre.“
“Ich bin stumm, aber ich bringe sie dazu, mir zuzuhören.”
Dieses Motto und die Lebensgeschichte der Helen Keller machen noch heute vielen Kranken Mut. Und sie macht mir Mut und – so wie Jesus auch – allen Hoffnung, dass Begegnungen Änderungen bedeuten können. Dass ihr heute hier seid, liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden, ist so ein Startschuss für ein gemeinsames Abenteuer. Helen schreibt: “Life is either a daring adventure or nothing.” – „Das Leben ist entweder ein gewagtes Abenteuer oder gar nichts.“
Ihr, liebe Carina, Cecily, Franziska, Sarah, Sophie, Cornelia, Ruth, Andreas und Julius, und wir werden darauf schauen, dass uns im Laufe dieses Jahres für manches die Augen geöffnet werden. Hinschauen, wo wir bisher vielleicht weggeschaut haben, weil es uns Angst gemacht hat, zu sehr eingeschüchtert hat, wir uns nicht getraut haben, genau hinzusehen.
Helen Keller schrieb: „Wenn sich die eine Tür des Glücks schließt, öffnet sich eine andere; doch oft schauen wir so lange auf die geschlossene Tür, daß wir die andere nicht sehen, die für uns geöffnet wurde.“
Die Zeit vor uns – und das gilt für alle, die uns begegnen wie heute hier in der Kirche – soll uns gemeinsam die Ohren freimachen, damit wir auf das achten können, was wirklich gehört werden möchte. Jesus steckt uns die Finger in die Ohren und dann stellen wir uns mal vor, was hören wir dann, wenn wir ganz genau und feinsinnig hinhören. Nicht so sehr das laute Geschrei und das Streiten um Nichtigkeiten. Wir wollen uns gemeinsam auf die leisen Töne aufmerksam machen.
„Mit einem Freund durch die Dunkelheit zu gehen ist besser als allein im Licht zu gehen.“, dichtet Helen Keller. „Allein können wir so wenig tun; zusammen können wir so viel machen.“ Für die Leute war es damals unfassbar, was sie gesehen hatten und bei Jesus erlebt haben. »Es ist einfach großartig, was er tut!«, verbreiteten sie überall. »Selbst Taube können wieder hören und Stumme sprechen!« Blinde sehen, Trauernde werden sich freuen können, Hoffnungslose neue Hoffnung schöpfen.
Amen