Harald Kluge
Jesus Sirach 15, 11-20
Von der Verantwortung des Menschen
Sag nicht: »Gott ist schuld, dass ich Unrecht getan habe.« Er veranlasst niemals etwas, das er hasst! Sag nicht: »Er selbst hat mich in die Irre geführt.« Zur Ausführung seiner Pläne braucht er keine Sünder. Der Herr hasst alles, was abscheulich ist, und niemand, der ihn ernst nimmt, kann so etwas lieben. Am Anfang, als Gott den Menschen schuf, hat er ihm die Freiheit zu eigener Entscheidung gegeben. Wenn du willst, kannst du seine Gebote befolgen. Von deiner Entscheidung hängt es ab, ob du ihm die Treue hältst. Er hat Feuer und Wasser vor dich gelegt; du selbst hast die Wahl, welches von beiden du nehmen willst. Du kannst wählen zwischen Leben und Tod und bekommst, was du wählst. Die Weisheit des Herrn und seine Macht sind groß und er sieht alles. Er weiß alles, was ein Mensch tut. Freundlich blickt er auf die, die ihm gehorchen. Er hat keinem befohlen, schlecht zu sein, und keinem erlaubt, Unrecht zu tun.
Jesus Sirach 15, 11-20
Liebe Gemeinde!
Können wir es noch schaffen?
Lassen sich die aktuellen Katastrophen und Fragen und Schwierigkeiten und Kriege und Streitigkeiten und Auseinandersetzungen und Nöte irgendwann noch lösen? Ich habe manchmal so ein mulmiges Gefühl. Besonders wenn Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger auftreten und Ansagen machen, wo ich mir ganz wie Goethe denke: Die Worte hör ich wohl, allein mir fehlt das Vertrauen, der Glaube manchmal auch.
Können wir die gordischen Knoten lösen, auseinander fädeln oder müssen wir sie durchschlagen? Aggression und Verbissenheit, gepaart mit gewaltvoller Sprache und einem Auftritt im Gleichschritt schüren in mir da eher Angst als dass sie mich verführen, mitzumarschieren. Es gibt sie: die Umweltzerstörung, die Verpestung der Atmosphäre. Mehrere Tage hintereinander war die Qualität der Luft im ersten Bezirk „schlecht“ – hat mir meine APP mitgeteilt. Feinstaub und NO2 und ein bisschen Ozon dazu. Ein unguter Cocktail in der Luft bei dem die App warnt: „Die Luft ist stark verschmutzt und für empfindliche Personengruppen gesundheitsschädlich. Verbringen Sie weniger Zeit im Freien, falls bei Ihnen Symptome wie Atembeschwerden oder Hustenreiz auftreten.“
Können wir den Notlagen in den Spitälern, den Schulen, auf den Unis, bei den Einkommen, der Teuerung, den steigenden Mieten und Kosten für Wohnungen und Häuser etwas entgegenhalten? Wenn ich manches lese, wird mir bange. Mediziner, die es wissen müssen, berichten, dass derzeit Krebsoperationen verschoben werden und auch Kinder nicht mehr rechtzeitig operiert werden und dann im Rollstuhl landen. Manche seien auch verstorben, weil es zu wenig Personal im medizinischen Bereich gibt.
Wie lassen sich die Probleme lösen? Mit Verstand, Vernunft, Geld und der Bereitschaft. Das alles sei in uns vorhanden, so lautet die biblische Botschaft dazu! Einen solchen erfrischend optimistischen Blick auf die Natur von uns Menschen liefert uns die Bibel an einigen Stellen, über die wir nicht oft genug sprechen. Poetisch gedichtet und verdichtet lesen wir etwa darüber bei der doppelt apokryphen Stelle Jesus Ben Sirach 15.
Zum einen gehört das Buch Jesus Sirach zu den Apokryphen (Spätschriften), jenen biblischen Büchern, die nach der berühmten Formulierung Martin Luthers “der Heiligen Schrift nicht gleich gehalten und doch nützlich und gut zu lesen sind“. Die Passage, von der ich heute spreche, ist uns nur über griechische Übersetzungen der verlorengegangenen hebräischen Texte überliefert. Und ich möchte all diesen Menschen ein “Danke!” sagen. Wir Menschen verdrängen gerne. Oft muss mir jemand auf die Sprünge helfen, wenn ich vergessen habe, wo ich jemanden verletzt oder beleidigt habe. Wir haben es nicht nur zur Meisterschaft im Verdrängen gebracht, sondern schieben unsere eigene Verantwortung für schlechte Entscheidungen und Entwicklungen auch schon mal auf andere ab.
Jemand, der sich da gar nicht wehren kann und dem wir alle Fehler zuschieben können, war und ist Gott. Vielleicht haben die Menschen gerade aus diesem Grund das Göttliche, die Götterwelt, ihr Gottesbild und ihre Vorstellungen erschaffen? Für manche ist es auch das Böse, der Teufel („The Devil made me do this!“), das Diabolische in anderen Menschen. „Sie hat mich verleitet, betört, verführt, überredet.“ Schon bei der allerersten Entscheidung, die ein Mensch trifft, sind alle anderen schuld daran, nur nicht diejenige Person, die dieses schwere Verbrechen getan hat.
Die allererste Entscheidung laut Bibel, die ein menschliches Wesen aus freiem Willen trifft, ist Eva, die Frau. Sie nascht vom Baum der Erkenntnis. Nachdem sie von der Schlange aufgeklärt worden war, dass sie daran nicht gleich sterben wird – damit hatte ja Gott dem Paar Eva und Adam gedroht. Eva fällt nach dem Biss in den Granatapfel oder welche Frucht auch immer nicht tot um. Also nicht gleich. Erst später im Alter von 930 Jahren stirbt Adam und wenn Frauen auch damals älter wurden als Männer, hat Eva gut möglich 1.000 Jahre gelebt. Da 1.000 Jahre vor Gott jedoch wie ein Tag sind, liegt es im Auge der Betrachtenden, ob nun Eva und Adam am gleichen Tag oder doch erst um die 1.000 Jahre später gestorben sind.
Jedenfalls verführt die Schlange die Frau – und diese den Mann. So rechtfertigen sich die beiden. Und eigentlich trägt doch Gott an allem die Schuld. Schließlich wissen alle Eltern, dass nichts verlockender ist als zu sagen: “Das dürft ihr nicht! Nascht ja nicht vor dem Essen!“
Sag nicht: »Gott ist schuld, dass ich Unrecht getan habe.« Er veranlasst niemals etwas, das er hasst! Sag nicht: »Er selbst hat mich in die Irre geführt.« Zur Ausführung seiner Pläne braucht er keine Sünder. Der Herr hasst alles, was abscheulich ist, und niemand, der ihn ernst nimmt, kann so etwas lieben.
Zu den eigenen Taten und Worten zu stehen, müssen wir alle lernen. Wir werden nicht von Gott in die Irre geführt. Zwar gibt es die theologische Ansicht, für Gottes allumfassenden und großen Plan braucht es auch die bösen und gewalttätigen Menschen, die zerstörerischen Kräfte. Erst dadurch kann das Gute noch mehr leuchten und scheinen und sich davon abheben.
Hier wird dieser einfachen und naiven Sichtweise eine Absage erteilt. Es heißt: Schau zuallererst auf deine eigenen Handlungen. Widme dich deinen eigenen fünf Sinnen, deiner Urteilsfähigkeit und deiner Kompetenz zur Problemlösung.
„Gott gab dem Menschen einen freien Willen und fordert uns auf zur Rede, schenkt uns Sehkraft und Gehör; gibt uns ein Herz, mit dem wir vernünftig reden und handeln können, und erfüllt uns mit der Kraft des Urteilsvermögens.“ (Sirach 17, 5ff. in eigener Übersetzung)
Was wollen wir noch mehr? Was brauchen wir noch mehr, um die Probleme dieser Tage zu lösen und um uns am Leben zu erfreuen? Und um andere mit hineinzunehmen?
Nach den weisen Überlegungen von Jesus Ben Sirach Kapitel 17 schenkt Gott uns Menschen die 5 Sinne plus 2 Goodies: Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Fühlen plus die Vernunft und den Verstand. Wie schön und gut und freundlich wäre diese Welt, dieses Land, diese Stadt, dieser Bezirk, mein eigenes Leben, wenn wir uns mehr davon leiten ließen? Was genau mit den zwei Zusatzstoffen „Vernunft“ und „Verstand“ gemeint war, wissen wir nicht. Da können wir nur spekulieren. Und wir sollten es auch. Näher ausgeführt wird es nicht und die verwendeten hebräischen Wörter sind reich an Bedeutungen. Auf Immanuel Kant geht eine Unterscheidung zwischen Verstand und Vernunft zurück, die uns aber durchaus weiterhelfen kann. Auch wenn bei diesem aus den Jahren 190-180 v. Chr. in Jerusalem entstandenen Werk Ben Sira Wörter und Wortfelder in Gebrauch waren, die bis zu Kant einen großen Wandel erlebt haben. Für Immanuel Kant bedeutet Verstand das Vermögen, aus der Mannigfaltigkeit der äußeren Welt Begriffe zu bilden und Urteile zu fällen. Die Vernunft ist hingegen das umfassendere Erkenntnisvermögen universelle Zusammenhänge und Werte zu erkennen. Luther übersetzt den siebenten Sinn nicht mit Vernunft sondern mit „das Wort“. Mit dem Wort beschreiben wir die Welt, tauschen uns aus und kommunizieren. Mit dem Wort machen wir uns selbst die Vorgänge in der Welt und in uns verständlicher.
„Am Anfang, als Gott den Menschen schuf, hat er ihm die Freiheit zu eigener Entscheidung gegeben.“
Irgendwann merken wir es, in der Kindheit und besonders der Pubertät, handeln wir oft so wie Eva und Adam. Wir hinterfragen die Verbote und Gebote, was uns weisgemacht worden ist, was man uns erzählt hat. Wir hören auf, an Weihnachtsmann und Osterhase zu glauben. Und das ist gut so. Manche hören auf, an den Wahrheitsgehalt der Geschichten zu glauben, die uns als Kleinkindern vorgelesen wurden. Um die eigene Entscheidungsfähigkeit zu entwickeln, müssen auch liebgewonnene Erzählungen dran glauben. So können wir auch jene Erzählung von Eva und Adam verstehen: Mit ihrer selbstbestimmten Handlung wurden ihnen die Augen geöffnet und sie erkannten, dass Taten auch Folgen mit sich bringen. Ich soll die Verantwortung übernehmen und nicht abschieben, nicht aufschieben, nicht wegschieben. Und seien wir uns ehrlich: Es ist ein gutes Gefühl Verantwortung zu tragen und dazu zu stehen.
Wenn du willst, kannst du seine Gebote befolgen. Von deiner Entscheidung hängt es ab, ob du ihm die Treue hältst. Er hat Feuer und Wasser vor dich gelegt; du selbst hast die Wahl, welches von beiden du nehmen willst. Du kannst wählen zwischen Leben und Tod und bekommst, was du wählst.
Der Autor namens Johannes hat im ersten Brief 5, 1-7 so schön darüber geschrieben: “Hieran erkennen wir, dass wir die Kinder Gottes lieben, wenn wir Gott lieben und seine Gebote befolgen. Denn dies ist die Liebe zu Gott: dass wir seine Gebote halten; und seine Gebote sind nicht schwer.“
Jesus hat es in einem Vergleich von Geboten und dem Joch, das Ochsen zu schleppen haben, so ausgedrückt: Matthäus 11: „Kommt zu mir, all ihr Geplagten und Beladenen: Ich will euch erquicken. Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir, denn ich bin sanft und demütig; und ihr werdet Ruhe finden für eure Seele. Denn mein Joch drückt nicht, und meine Last ist leicht.“
Wir haben die Wahl zwischen Feuer und Wasser, zwischen Segnen und Fluchen, zwischen dem frohen und munteren, mutigen, selbstbewussten Blick oder der apathischen, mit dem Gefühl von Ohnmacht vermischten, pessimistischen Schau in die Gegenwart und Zukunft.
Wir wählen täglich zwischen Leben und Tod. Unser Leben, wie wir es führen, führt zu Entwicklungen, die uns immer mehr bewusst vor Auge treten und uns im Alltag begleiten. Vom Einkaufen bis zum Konsumieren von Produkten, vom Reisen bis zum Verhalten bei der Mülltrennung und beim Zusammenstellen des Speiseplans.
Bei allem, was wir tun, wissen wir, was uns und der Welt gut tut oder was mir uns anderen schaden könnte. Ganz sicher sein kann ich mir ja nie. Und ich habe es in der Hand, mich so oder so zu verhalten und zu entscheiden. Und auch hier gilt: Ausreden zählen nicht. Wegschieben von Verantwortung ist bequemer, aber macht es uns glücklich?
“Die Weisheit des Herrn und seine Macht sind groß und er sieht alles. Er weiß alles, was ein Mensch tut. Freundlich blickt er auf die, die ihm gehorchen.“
Auch auf die anderen, wissen wir nicht erst seit Jesus. Gerade Jesus hat hier noch einmal erklärt, damit niemand glaubt, sich über andere erheben zu dürfen. Wir alle sündigen, machen Fehler, täglich lügen wir, betrügen wir uns selbst und andere. Wir sind nicht perfekt und müssen es auch nicht sein, dürfen uns nicht einreden und noch weniger anderen einreden, perfekt zu sein. Wohin das gerade bei Kindern und Jugendlichen führen kann, diese Versessenheit, einem Idealbild nachzurennen, davon lesen wir. Kaum etwas kann uns mehr Angst einjagen, als dem Anspruch der Allgemeinheit und von mir selbst und von Gott nicht zu genügen.
Gott schaut, so erzählt es Jesus, mit Augen wie liebevolle Eltern auf uns. Die Kinder gehen da und dort einen falschen Weg, aber man liebt sie. Sie können einen auf die Palme bringen, an den Rand des Wahnsinns treiben, die Nerven verlieren lassen … aber ich liebe meine Kinder weiterhin, immer noch, immer noch mehr.
Der verloren geglaubte Sohn taucht nach Jahren wieder bei seinen Eltern auf, hat das ganze Geld vom Erbteil verschleudert, aber der Vater – und ich denke die Mutter auch – schließen ihren Sohn liebevoll in die Arme. Gott feiert ein Fest, wenn wir zu ihm zurückkehren. Es ist also nicht schlecht, schlimm, böse, andere Wege zu betreten, sich anders zu orientieren. Solange es ein Weg ist, der über welche Umwege und Irrwege und Sackgassen auch immer wieder zum Pfad des Lebens führt, freuen sich Gott und die Welt.
“Gott hat keinem befohlen, schlecht zu sein, und keinem erlaubt, Unrecht zu tun.“
Das wäre die billigste Ausrede. Der von mir, nicht nur von mir, verehrte italienische Autor Umberto Eco hat zu „Die Grenzen der Interpretation“ geschrieben:
“Würde Jack the Ripper uns sagen, er habe seine Taten aufgrund einer Inspiration begangen, die ihn beim Lesen des Evangeliums überkam, so würden wir zu der Ansicht neigen, er habe das Neue Testament auf eine Weise interpretiert, die zumindest ungewöhnlich ist.“
Gott befiehlt niemandem, schlecht zu sein. Gott hält mich aber auch nicht einfach so auf, wenn ich mich dazu entschließe, anderen oder mir selbst zu schaden.
Ich muss Klimakleberaktivistinnen nicht lieben, an Demos für Klimastreiks nicht teilnehmen, aber ich sollte als ein Teil von ihr diese Welt lieben, diese Schöpfung lieben, versuchen sie mit liebenden Augen zu betrachten, mit liebenden Ohren auf die Gesänge der Wale und Vögel hören, mit liebender Nase die Gerüche von Gewürzen und Ausdünstungen und anderen Lebewesen einsaugen, mit liebenden Fingern über all die Formen und Oberflächen und Materialien von Lebendigem streichen, mit liebender Zunge das Köstliche und auch Bittere des Lebens schmecken. Und dabei gilt: Schalten wir öfters Vernunft und Verstand ein, tauschen wir uns aus und diskutieren und lernen wir voneinander. Dann werden wir ganz gewiss mit all den von Gott gegebenen Goodies die guten Entscheidungen treffen.
Amen