Harald Kluge
„enttäuscht, ernüchtert, ermutigt“
Psalm 40 Audiodatei auf Youtube
Über den wahren, richtigen, guten Gottesdienst schreibt der Dichter David im 40. Psalmlied:
Erhofft, erhofft habe ich den HERRN,
und er hat sich zu mir geneigt,
hat mein Schreien erhört.
Er zog mich empor aus glubbernder Grube,
aus Schmutz und Schlamm,
und stellte meine Füße auf festes Gestein,
sicherte meine Schritte.
Er gab mir in den Mund neuen Gesang,
Lobpreisung unserem Gott.
Viele sehen‘s und erschauern
Und fassen Vertrauen zum Herrn.
Glücklich der Mensch, der dem Herrn vertraut
und sich nicht einlässt auf Unbeherrschte
und in Lügen Verstrickte!
Viel hast du getan, Herr, mein Gott,
deine Wunder, deine Pläne an uns!
Nichts ist dir gleich.
Wollte ich von ihnen reden und erzählen,
es sind ihrer zu viel, sie sind nicht zu zählen.
Nicht willst du Schlachtopfer und Gabeopfer,
hingegen hast du mir Ohren gebohrt.
Brandopfer und Sündopfer aber forderst du nicht.
So sprach ich: Siehe, da bin ich.
In der Buchrolle steht, was ich tun muss.
Ich habe Lust, deinen Willen zu tun, Gott,
und deine Weisung trag ich im Herzen.
Wohlgemut verkünde ich Herr,
Gerechtigkeit in großer Versammlung.
Meine Lippen verschließe ich nicht,
du weißt es.
Deine Gerechtigkeit verbarg ich nicht
tief in meinem Innern.
Ich bringe deine Treue, deine Befreiung zur Sprache,
verhehle deine Gnade und Wahrheit nicht vor großer Versammlung.
Herr, du wirst mir dein Erbarmen nicht vorenthalten,
deine Solidarität, deine Treue werden mich stets behüten.
Denn Leiden ohne Zahl umzingeln mich.
Meine Verfehlungen haben mich eingeholt,
so dass ich nicht mehr aufsehen kann.
Zahlreicher sind sie als die Haare meines Hauptes,
mein Mut verlässt mich.
Sei mir gnädig, Herr, errette mich,
eile mir zu Hilfe!
In Schmach und Beschämung mögen fallen,
die mir nach dem Leben trachten.
Zurückprallen sollen sie und zum Schimpf werden,
die sich an meinem Unglück erfreuen.
In Schande sollen sie erstarren,
die da hohnrufen: Ha! Ha!
Frohlocken aber und freuen sollen sich alle,
die dich suchen.
Es sollen sprechen: Groß ist der Herr!, die dein Befreiertum lieben!
Jetzt aber bin ich elend und arm,
doch der Herr denkt an mich.
Du bist´s der mir aufhilft, der mich errettet,
mein Gott säume nicht!
Psalm 40 (Übersetzung nach Kurt Marti)
Liebe Gemeinde!
Zöger nicht!
Zauder nicht!
Wer zaudert, schaut dem Unrecht zu, dem Morden und dem Schlachten! Wer zögert, sieht zu, dass Menschen töten oder getötet werden! So hart mahnt David in seinem Psalmlied die Dringlichkeit menschenwürdigen Handelns ein. David fordert Gott direkt auf: Komm runter und mach was! Na komm schon! Rette mich! Rette Leben!
Die wenigsten von uns kommen je in eine solche Situation, direkt über ein Leben entscheiden zu müssen. Oder etwa doch?
Vorgestern am 29. Oktober vor 160 Jahren hat das erste Treffen des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz stattgefunden. Und seither möchte man sich diese segensreiche Institution, die in nahezu allen Ländern dieser Erde verbreitet ist, kaum mehr wegdenken. Ob als Rotes Kreuz, Roter Halbmond, Rote Zeder…
Und gestern, am 30. Oktober, vor 113 Jahren verstarb jener Mann, Jean-Henri Dunant, der die Idee dazu hatte. Ein Reformierter mit revolutionären Gedanken. Er ist wohl auch der einzige Friedensnobelpreisträger, der mehr als 20 Jahre wie ein obdachloser Clochard auf der Straße gelebt hat und auf Parkbänken und in Bahnhofshallen geschlafen hat.
Heute kennt das Zeichen des Roten Kreuzes jeder Mensch. Es ist wohl das bekannteste Schutzzeichen auf dieser Erde. Ob als Kreuz, Halbmond oder Kristall – ein Versuch es auch areligiösen Mitmenschen schmackhaft zu machen, die religiöse Symbole stören. Es gibt dazu auch örtlich begrenzt benutzte Schutzzeichen: Roter Balken oder auch eine Rote Sonne in Japan, Rotes Dreieck in den Niederlanden, Rote Flamme in Siam, Rotes Hakenkreuz in Sri Lanka, Indien, China, Taiwan, Rote Palme in Syrien, Rotes Lamm im Kongo-Léopoldville, Roter Stern in Simbabwe, Rotes Nashorn im Sudan, Rote Zeder im Libanon, und besonders schön ist der Rote Torbogen in Afghanistan. Eine Idee zur Betreuung Verwundeter, Sterbender und von Toten hat in kürzester Zeit wie ein Lauffeuer, ein Leuchtfeuer die Welt erobert.
Diese grandiose Idee zur Linderung von Not und Schmerzen, egal woher jemand kommt und ob selbst- oder fremdverschuldet, ist für mich ein Beweis dafür, dass die Menschlichkeit stark in uns wirkt. Es war jedoch für den Initiator, einen calvinistisch erzogenen und geprägten Schweizer Kaufmann, kein gutes Geschäft. Zumindest hier auf Erden. Dunant hat den Umgang von Menschen mit Verletzten, Erkrankten, Sterbenden – auch den schlimmsten Feinden – vermenschlicht. Und wenn heute wieder Tendenzen zur Entmenschlichung der Feinde, der Andersdenkenden, der Gegner und Konkurrenten auftauchen, muss man nicht nur als im Geiste Calvins erzogener Mensch, das heißt im Geiste der Heiligen Schrift, entschieden widersprechen. Also wenn Sie mich fragen – und ich wurde es mehrfach gefragt, ob ich für Palästina oder für Israel bin, für Russland oder die Ukraine bin – kann ich sagen: Ich muss, ja darf mich nur für eine Seite entscheiden: So wie es der Psalm 40 deutlich hervorhebt: „Er oder sie ist elend und arm, doch der HERR denkt an sie.“
So wie es Jesus gepredigt hat in seinen Glückseligpreisungen: Nicht glücklich, nicht reich, nicht erfolgreich, nicht obenauf, sondern selig in der Tiefe, in der Trauer und Traurigkeit. Glückselig in der Sanftmütigkeit. Wer hungert und dürstet, wer niemals aufhört danach zu fragen, was ist richtig und gerecht? – diese Menschen sind auf der richtigen Spur. Nicht unbedingt auf der Überholspur, aber zumindest keine Geisterfahrer, die Opfer in Kauf nehmen just for fun, just for a just cause. Bloß so zum Spaß und so für ihre „gerechte Sache“.
Die Barmherzigen, nicht die Herzigen sind glückselig. Die ein reines Herz haben oder zumindest ein nicht so hartes Herz haben, oder nicht herzlos sind. Das sind ja alles wundervolle Sprachbilder.
„Herzlos“ kann ich eigentlich nicht leben. Das meint, mit vollem Herzen, mit mutigem Herzen den Frieden fördern, stiften und Frieden verbreiten, wo immer man kann, ist so eine Art Herzensbildung.
An einer meiner Schulen in Döbling gab es bis vor kurzem Gruppen von Jugendlichen als sogenannte PEERs. Unter der Leitung einer darin ausgebildeten Lehrkraft, wurden diese freiwilligen Schüler*innen unterrichtet, wie man Konflikte friedlich löst, anspricht, so dass konstruktiv nach Lösungen gesucht werden kann. Ob es zwischen Schüler*innen oder mit Lehrkräften kriselt, die PEERs haben Vertrauen genossen. Leider gibt es diese Gruppe seit einigen Jahren nicht mehr, weil dieser eine und einzige darin ausgebildete Lehrer erfahren musste, wie wenig Unterstützung ihm von Seiten des Kollegiums und der Schulleitung entgegengebracht worden ist. Schade und eine Schande. Friede zahlt sich eben nicht aus, monetär nicht und vom Ansehen her nicht. Auch Henri Dunant ist es so ergangen.
Jesus wusste damals schon, dass all jene, die vom Frieden reden und „faseln“ und das immer wieder betonen, schon auch mal ausgelacht werden, geschmäht, ja mit zynischen Beleidigungen beworfen werden. Und wenn es ganz arg kommt, werden beseelte und begeisterte Menschen, die für den Frieden ein Tanzfestival besuchen, schon mal von Terroristen abgeschlachtet und entführt, wie jüngst geschehen.
Es ist eine irre und verrückte Welt, in der wir leben. Sie wirkt arg gestört, mit Blick auf das Klima, das wetterbedingte und das soziale und politische Klima wirkt es extrem gestört. Und es scheinen extrem gestörte Menschen herumzulaufen, die verletzen wollen für eine größere und, wie sie meinen, gerechte Sache oder einfach nur so aus Spaß.
Bei Henri Dunant war es ein einziges singuläres schreckliches Erlebnis von bestialischer Grausamkeit. Das hat den Geschäftsmann zum Kämpfer für den Frieden werden lassen. Der Schrecken des Krieges hat ihn verändert – zum Guten. Man glaubt es kaum.
Seine Vision war es, dass die Menschlichkeit auch in Zeiten, in denen die Unmenschlichkeit zu regieren scheint, in Zeiten des Krieges, die Oberhand behält.
„Jeder von uns kann in seiner Not zum Opfer werden! Und auch zum Helfer!“
Nur daran sich messen zu lassen, zu helfen, Wunden zu verbinden, Trauernde zu trösten, Erkrankte zu heilen oder zu pflegen, Behinderten zu assistieren und Sterbende sowie auch die Angehörigen von all jenen in Not Geratenen zu begleiten, das war die Vision von Dunant und ist die Grundidee des Roten Kreuzes. Nach 160 Jahren kann man wohl sagen, dass es humanistisch und christlich und anders religiös motivierte Menschen sind, die sich hier zusammenschließen, um nur eine Aufgabe zu erledigen: Wunden zu verbinden und nicht zu schlagen, Nahrung und Medikamente jenen zukommen zu lassen, die sie dringend benötigen und selbst nicht beschaffen können.
1859, mit 31 Jahren, hat Dunant eher zufällig das Schlachtfeld von Solferino und das dort stattgefundene Gemetzel zwischen den österreichischen Truppen und jenen Frankreichs und Sardiniens mit eigenen Augen gesehen. Mehr als 40.000 Tote und Verletzte blieben ohne Versorgung auf dem Kriegsplatz zum Leiden und Sterben zurück.
“Die Sonne des 25. Juni beleuchtet eines der schrecklichsten Schauspiele, das sich erdenken lässt. Das Schlachtfeld ist allerorten bedeckt mit Leichen von Menschen und Pferden. In den Straßen, Gräben, Bächen, Gebüschen und Wiesen, überall liegen Tote, und die Umgebung von Solferino ist im wahren Sinne des Wortes mit Leichen übersät. Getreide und Mais sind niedergetreten, die Hecken zerstört, die Zäune niedergerissen, weithin trifft man überall auf Blutlachen.”
(aus: Henry Dunant, Eine Erinnerung an Solferino)
Man merkt aus seinen Erinnerungen, die beim Lesen bereits nur schwer zu ertragen sind, dass er genau hingeschaut hat. Er hat sich nicht abgewandt, hat in die glubbernden Gruben hineingeblickt. Dort wo der Mensch in seinem Elend und in Schmutz und Schlamm und auch Kot hockt. Im Psalm 40 kommt das Bild der Zisternen, in die Gefangene, Verbrecher, Menschen, die gedemütigt werden sollten, oder derer man sich entledigen wollte, in der Antike hineingeworfen wurden. Zisternen, die oben eine schmale Öffnung haben und unten bauchig ein Entkommen unmöglich machen. David hat diesen Menschen eine Stimme gegeben. Gott, du ziehst mich aus glubbernder Grube. Du stellst mich auf festen Grund, weist mich darauf hin, dass ich wie jeder Mensch eine unverletzliche Würde besitze, so wie ein Rückgrat, so wie einen Mund. Denn mit dem Mund preisen wir Gott für die Taten und Wunder und Geschenke, mit denen er uns zeitlebens beschenkt. Ja, wir klagen und haben ausreichend Gründe zum Klagen, aber auch zum Danken und zum Loben.
David besingt im Psalm 40 ein gesamtes Menschenleben mit sehr verschiedenen Stimmungen und Gefühlswallungen. Von himmelhochjauchzend bis zu Tode betrübt. Wer sich auf dich verlässt, Gott, ist glückselig. Du ziehst mich raus aus der Not, du stellst mich auf weiten Raum, du errettest mich und die Meinen. Nichts ist dir gleich. Aber dann schwingt die Stimmung in dem Lied immer wieder radikal um, so wie in jedem von uns. Da tauchen Zweifel auf, Fragen, Verzweiflung. Leiden ohne Zahl umzingeln mich. Die Notlagen türmen sich vor mir auf. Die Fehler meiner Vergangenheit und die meiner Vorfahren holen mich ein. Mein Mut verlässt mich.
Und es wird hier bereits mehr als 2000 Jahre vor der Reformationszeit klar gemacht: Gott will keine Sündopfer, keine Schlachtopfer, keine Gabeopfer und keine Brandopfer. Gott achtet nur auf unser Herz, in dem wir Gottes Weisung geschrieben finden. Wie reformatorisch gedacht klingen diese Zeilen. Es braucht keinen Opferdienst, keine Priesterschaft, keine Rauchopfer, keinen Weihrauch, keine Zahlungen. Wenn wir glauben, eine offene Rechnung mit Gott zu haben, können wir diese nicht mit Geld begleichen.
Martin Luther, Johannes Calvin, Ulrich Zwingli, Heinrich Bullinger hätten es nicht besser als in Psalm 40 ausdrücken können.
Gott rettet uns Menschen, weil Gott es so will. Menschen retten Menschen.
Henri Dunant, dieser große Visionär, hat übrigens auch von einem Staat Israel geträumt, damit das Volk der Jüdinnen und Juden eine sichere Heimat auf Erden haben können. Und 100 Jahre vorweggenommen hat Dunant die Idee der UNESCO mit einer Weltbibliothek. Dazu engagierte er sich leidenschaftlich mit Vorträgen für die Abschaffung der Sklaverei in Nordamerika. Geld hat ihm das alles keines eingebracht. Dunant nagte am Hungertuch, wurde des betrügerischen Bankrotts für schuldig befunden. Finanziell und moralisch galt er als ruiniert. In Armut verbringt er den Rest seines Lebens, wirkt auf Besucher depressiv und verbittert.
Und er möchte begraben werden “wie ein Hund”. Er stirbt am 30. Oktober 1910. Ohne Zeremonie wird er beerdigt. Seine letzten Worte waren: “Wie finster wird es um mich her!”
Tutti fratelli, alle sind Brüder – Jeder Verwundete muss versorgt werden, egal, ob und welche Uniform er oder sie trägt.
Und Dunant warf die Frage auf: „Gibt es während einer Zeit der Ruhe und des Friedens kein Mittel, um eine Gesellschaft zu gründen, die aus großherzigen Freiwilligen zusammengesetzt ist, um den Verletzten in Kriegszeiten zu helfen?“
„Der Feind, unser wahrer Feind, ist nicht die Nachbarnation; es sind Hunger, Kälte, Armut, Unwissenheit, Gewohnheit, Aberglaube und Vorurteile.“ So analysiert er seine Gegenwart – und passend auch die unsrige.
Menschen aus aller Welt kommen in Norditalien bei Solferino immer wieder zusammen, um Dunants zu gedenken. Sie besuchen dabei die Knochenkapelle „Ossario di Solferino“, in der die Schädel von 1413 Gefallenen der Schlacht aufbewahrt werden. Und sie lesen die Widmung in der Kapelle:
Den vereinigten Resten
Toter Krieger
Weihet Kränze
Und fromme Gebete
Feinde im Kampfe
Ruhen sie im Frieden des Grabes
Beisammen als Brüder.
Alle sind Brüder, tutti fratelli. Alle sind wir Geschwister. Das bleibt bis heute die Botschaft des launigen und lausigen Geschäftsmannes Henri Dunant, aber eines ganz großen Menschenfreundes. Sicherlich war Dunant kein Heiliger, aber der Heilige Geist war stark in ihm. Und er kann es auch in uns sein, wenn wir ihn lassen.
AMEN