Harald Kluge: “Wir sind ganz Ohr!” Hiob 33, 1-18
„Selig sind, die Gottes Wort hören und bewahren.“ So steht es hier auf unserer linken Empore der Reformierten Stadtkirche. Und was ist mit jenen unter uns, die nicht hören, die nicht gut hören? Achten wir als Kirche nicht viel zu wenig auf die vielen Menschen, die nicht gut hören? Und wie sieht es mit jenen aus, die absolut nichts hören? Achten wir nicht zu wenig auf sie? Nein, wir achten nicht zu wenig auf sie. Wir beachten sie fast gar nicht. Deshalb ist so ein „Welttag des Gehörs und Hörens“ am 3. März 2024 wichtig, als Weckruf. Denn es kann uns alle treffen.
Wir müssen als Kirche und jede und jeder Einzelne verstärkt auf unser eigenes Hören und das der anderen achten. Dazu gibt es den World Ear Care Day, den Welttag des Hörens. Denn im Glauben geht es um Beziehungen, zwischen Gott und Mensch und zwischen mir und meinen Mitmenschen, auch ich mit mir selbst. Und in allen Beziehungen kommt es unweigerlich einmal zum Punkt, wo nicht mehr aufeinander gehört wird, man nicht hört, hören will, nicht versteht, nicht verstehen kann. Für manche bleibt Gottes Stimme stumm. In manchen Lebenslagen ist Gott nicht zu hören. Da bleibt Gottes Stimme undeutlich. So auch für einen armen alten Mann namens Hiob, eine der tragischen traurigen Gestalten in der Bibel, die ich heute bei der Predigt vorstellen möchte.
Hiob war ein reicher, älterer, zufriedener, glücklicher Mann. Und ihm wird – ich muss es kurz machen – eines Tages aus völlig heiterem Himmel alles, wirklich alles, im Leben genommen. Er verliert alles, seinen Besitz, ihm werden die Herden geraubt, seine Kinder und Enkel kommen um. Und seine Hirten und Arbeiter werden umgebracht. Dazu erkrankt er schwer und in all seinem Kummer bleibt ihm nur noch … seine Ehefrau. Sie macht ihm jedoch noch gehörig jede Menge Vorwürfe. Hiob macht das, was wir alle machen würden. Er zieht sich zurück von allem und jedem. Von starken Schmerzen erfüllt, den Tod vor Augen, hat er mit dem Leben und mit Gott abgeschlossen. Was sollte er von Gott noch wollen?
Da besuchen ihn seine treuesten Freunde in der Not. Elifas von Teman, Bildad von Schuach und Zofar von Naama schweigen mit Hiob eine ganze Woche lang. Sie weichen ihm nicht von seiner Seite. Und sie hören sich Hiobs harsche Anklage gegenüber Gott und dem Leben an. Gemeinsam mit Hiob suchen sie dann in langen Streitgesprächen nach Erklärungen für seine Not. Als all das schon sinnlos scheint, taucht Elihu auf, der jüngste Freund Hiobs. Und Elihu bringt Schwung ins Gespräch und versucht es auf völlig andere Art und Weise.
„Du aber, Ijob, hör mir bitte zu und achte auf die Worte, die ich sage. Ich möchte meine Rede jetzt beginnen. Mit ruhigem Gewissen spreche ich, die reine Wahrheit kommt von meinen Lippen. Von GOTTES Geist bin ich geschaffen worden; sein Atem war’s, der mich ins Leben rief. Du darfst mir widersprechen, wenn du kannst. Bring alle deine Gegengründe vor!
In GOTTES Augen sind wir beide gleich, auch mich hat ER aus Lehm geformt wie dich. Du brauchst dich also nicht vor mir zu fürchten, ich setze dich bestimmt nicht unter Druck. Nun denn, ich selber hab dich sagen hören – den Klang der Worte hab ich noch im Ohr:
›Ich weiß von keiner Schuld und keinem Unrecht, unschuldig bin ich, frei von jedem Tadel. Doch GOTT erfindet immer neue Gründe, damit ER mich als Feind behandeln kann. ER lässt nicht zu, dass ich mich frei bewege, argwöhnisch überwacht ER jeden Schritt.‹
Ich muss dir sagen, Ijob, du hast unrecht. Mit Menschenmaß lässt GOTT sich niemals messen! Was hast du IHM denn letztlich vorzuwerfen? Dass ER zu allen deinen Fragen schweigt? GOTT redet doch! ER tut es immer wieder, mal sanft, mal hart – man achtet nur nicht drauf! Zur Nachtzeit, wenn die Menschen ruhig schlafen, in tiefem Schlummer auf den Betten liegen. Dann redet GOTT durch Träume und Visionen. ER öffnet ihre Ohren, dass sie hören; mit Nachdruck warnt ER sie vor ihrem Tun, damit ER sie von ihrer Bosheit abbringt und ihnen jeden Grund nimmt, stolz zu sein. So rettet ER ihr Leben vor dem Grab und hindert sie, in ihr Verderben zu laufen.“
Hiob 33,1-18
Liebe Gemeinde!
Wann waren Sie zuletzt ganz Ohr? In jedem Gottesdienst gilt es ja, ganz Ohr zu sein. Ich hör auf die innere Stimme. Ich hör auf Gott und auf das, was so gesagt wird, gesungen und gebetet wird.
Der heutige „Ear Care Day – der Welttag des Hörens und des Gehörs“ ist doch eine wunderbare Sache. Ich kannte ihn bis vor zwei Wochen noch nicht. Durch Zufall ist mir dieser Tag aufgefallen, durch ein kleines Werbebanner am Handy beim Herumwischen durch die vielen Seiten des Internets zu den neuesten Nachrichten, den letzten Meldungen aus Wirtschaft und Politik.
Da drängt sich unerwartet so ein Pop-Up ins Bild. Da poppt der World Hearing Day 3rd of March 2024 auf. Und ich denke mir: Damit habe ich mich schon lange nicht beschäftigt. Unverständnis fördert Missverständnisse. Dabei entstehen viel Streit und Missverständnisse und selbst Kriege doch nur, weil Menschen nicht ausreichend aufeinander hören, weil Herrschende nicht auf Gott hören und nicht auf die Vernunft hören und den gesunden Menschenverstand partout überhören wollen.
Der Welttag des Hörens findet jedes Jahr am 3. März statt, um das Bewusstsein für die Vorbeugung von Gehörlosigkeit und Hörverlust zu schärfen und die Ohr- und Hörversorgung auf der ganzen Welt zu fördern. Es gilt darauf zu drängen, dass die Diskriminierungen gegenüber Gehörlosen und Schwerhörigen angeprangert und dann ausgeräumt werden. So können etwa an meinen beiden Höheren Schulen keine Gehörlosen am Unterricht teilnehmen.
An einigen wenigen Schulen in Wien wird es zwar ausdrücklich beworben. Aber es sind noch zu wenige Schulplätze und da braucht es mehr. Bis die Behinderungen von Menschen mit Hörbeeinträchtigungen nicht an allen Schulen, im Alltag, in Geschäften, in der Politik und in den Bildungseinrichtungen allgemein ausgeräumt sind, muss es diesen Tag geben. Weil es so einen Ankerpunkt braucht, einen festen Tag, einen Ort, Menschen, denen es ein Herzensanliegen ist, die uns nicht vergessen lassen, was Gott immer schon am Herzen gelegen hat.
Für Jesus war es das, ein Herzensanliegen. Jesus heilt den Tauben, der nicht stumm war, wie fälschlicherweise viele Übersetzungen der Bibel suggerieren. Der Gehörlose in dieser Geschichte bei Markus 7 ist weder stumm, noch gelähmt, noch dumm. Aber er wird von seinen Mitmenschen wohl als taubstummer Dummer schubladisiert. Mark Twain hat einmal geschrieben: „Freundlichkeit ist eine Sprache, die Taube hören und Blinde lesen können.“ Ja, Jesus war wohl die Freundlichkeit in Person. Von ihm haben sich die Menschen berühren lassen. Da sind die aus der Gemeinschaft Verstoßenen, wie jene mit Aussatz und Ekzemen behaftet, aufgetaucht aus ihrer Versenkung.
Jesus ist an alle herangekommen, an die Fortgesperrten, Gelähmten, Fallsüchtigen, Besessenen, Tauben, Stummen, Blinden, Infizierten. Und neben der Heilung an sich stand noch zusätzlich die Wiederaufnahme in die Gemeinschaft. Ohne diese wäre es mit den Geheilten nicht gut weiter gegangen. Achtet auf die Kranken und Behinderten, jene, die von euch behindert werden in ihrem Leben, die von anderen fortgeschickt werden, unterdrückt, nicht beachtet werden. Witwen, Waisen, Fremde nennt er immer wieder. Und über Witwen, Waisen, Fremde, Flüchtlinge sprechen wir ja oft.
Aber heute ist der Tag der Hörenden und weniger oder gar nichts Hörenden. Heute ist der Tag, um sich dem eigenen Hören und Gehör zu widmen, sagt die Weltgesundheitsorganisation WHO. Und nur so gefragt: Wann war Ihr letzter Termin beim HNO? Ich muss ehebaldigst zu meiner HNO-Ärztin, nachdem ich bei jedem zweiten Satz meiner Schülerinnen und Schüler nachfragen und meine Lauscher spitzen muss. Da fällt mir ein, es gibt so viele wunderbare Sprachbilder rund um unsere Ohrwascheln. Sperr deine Ohrwaschln auf! Dea riat ka Ohrwaschl. Dea sitzt auf de Ohrwaschl.
Als in Schuleinrichtungen Kinder und Jugendliche noch gezüchtigt wurden, gab es da und dort einen Satz „heiße Ohren“. Da verpassten ihnen die Lehrer und mancherorts auch Pfarrer als Strafmaßnahme oft einen Satz heiße Ohren. Wenn die Schülerinnen und Schüler sich anders als erwünscht verhielten, aufmüpfig, und wenn den Lehrenden nach einer Abwechslung war, gab es einen Satz heißer Ohren. Zu diesem Zweck legten Lehrkräfte oder Pfarrer die flachen Hände links und rechts auf die Ohren der Kinder. Und dann bewegten sie die Handflächen ganz schnell hin und her, was für die Opfer sehr schmerzhafte Folgen hatte. Es heißt ja leider auch: „Wir lernen mit den Ohren.“ und: „Schreib dir das hinter die Ohren!“ Diese Aufforderung, sich etwas hinter die Ohren oder gar hinter die Löffel zu schreiben, geht auf einen uralten Rechtsbrauch zurück. Im frühen Mittelalter hatte man bei wichtigen Verhandlungen, etwa bei der Festlegung von Grenzen im Gelände, die Kinder der Verhandlungspartner dazu geholt. Eigentlich eine kluge Sache. Die Kinder holte man aber oft auch gerne an den Ohren, deshalb heißt es auch „einen Zeugen hinzuziehen“.
Sie sollten notfalls noch in der nächsten Generation als lebende Zeuginnen oder Zeugen dazu aussagen können.
Um etwa die genaue Lage von Grenzpunkten eines Landbesitzes nicht zu vergessen, empfingen die Kinder oder auch Erwachsene an jedem Punkt ein paar Ohrfeigen. Man “schrieb” es ihnen als Positionsmarker der Grenzpunkte hinter die Ohren. Auch Knappen, angehende Ritter, wurden dann beim Ritterschlag geohrfeigt, damit sie sich lange an ihre bei der Zeremonie abgelegten Gelübde erinnern können. So genannte „mnemotechnischen Ohrfeigen“ waren im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit bis ins 19. Jahrhundert also durchaus verbreitet.
Unsere Ohren sind nun einmal sehr empfindlich und hoffentlich auch empfänglich. So sagen wir: Ich bin ganz Ohr, wenn ich mich ganz und gar auf meine Gesprächspartnerin einlassen will. Natürlich bin ich viel mehr als nur mein Ohr. Aber ich kann wohl mit keinem anderen Sinnesorgan so viele Dinge von meinen Mitmenschen wahrnehmen als mit meinem Ohr. So hab ich zuletzt die Geigen- und Flötenlehrerin meiner Kinder aus dem Kindergarten allein an ihrer Stimme im Straßenlärm hinter mir herausgehört und mich bei ihr für die musikalische Früherziehung meiner Töchter bedankt. Unsere Ohren sind wahrlich Wunderwerke. Sie ermöglichen es uns, das Gleichgewicht zu halten. Und man merkt das bei zu viel Alkohol bei den anderen, wenn sie durch die Gegend schwanken. Unsere Ohren sind großartige Filter im Zusammenspiel mit dem Gehirn. In all den Geräuschen und dem Lärm können wir uns doch auf einzelne Gespräche und Töne fokussieren.
Und um Gleichgewicht geht es ja auch in der Beziehung zwischen mir und meinem Gott. Auch bei Gott müssen wir die Nebengeräusche ausblenden und das fällt doch recht schwer. So gibt Elihu in seiner Rede an Hiob vor: Gott schweigt nicht zu all dem, was hier geschieht, Hiob.
„Gott redet doch!
Er tut es immer wieder, mal sanft, mal hart – man achtet nur nicht drauf!
Zur Nachtzeit, wenn die Menschen ruhig schlafen, in tiefem Schlummer auf den Betten liegen.
Dann redet Gott durch Träume und Visionen.
Er öffnet ihre Ohren, dass sie hören.“
Wir müssen da wohl das Gleichgewicht finden, zwischen sprechen und zuhören, auch mit meinem Gott. Ganz innig, persönlich, ja richtig intim. „Dein Wort in Gottes Ohr.“ Möge sich das, was du gesagt hast, bewahrheiten; möge das, was du dir erhoffst, wünschst, was du vorschlägst, erhört werden; mögest du Recht behalten. Vielleicht hatte Gott, so ist ja ein Anklagepunkt Hiobs gegenüber Gott, auch einfach zu viel um die Ohren. Gott könne sich vielleicht nicht um jeden Menschen, jedes Tier, jede Pflanze und alles sonst noch kümmern. Gott zu sein, klingt danach, als hätte da jemand unendlich viel um die Ohren.
Aber auf mich müsse Gott schon besonders achten, meint Hiob. So sieht er sich als treuer Gläubiger, frommer Follower Gottes, untadelig und rein, ohne Fehl und Tadel. Warum trifft ihn deshalb das Schicksal so hart? Einer der drei älteren Freunde Hiobs will ihn aufmuntern mit dem Gedanken: „Komm Hiob! Halt die Ohren steif! Das wird schon!“
Reiß dich zusammen! Verlier nicht den Mut! Egal wie viele Rückschläge, Schicksalsschläge dich auch treffen. Halt die Ohren steif! Bleib aufmerksam, zuversichtlich, munter, und lass dich von nichts und niemandem unterkriegen. Halt die Ohren steif! Tiere halten ihre Ohren steif, stellen die Lauscher auf, spitzen die Ohren, wenn es darum geht, besonders aufmerksam und wachsam, achtsam zu sein. Also, Hiob, spitz die Lauscher:
Gott öffnet dir die Ohren. So wie es Jesus beim Gehörlosen getan hat. „Jesus drückt seine Finger in seine Ohren und berührt seine Zunge mit Spucke. Dann schaut Jesus in den Himmel auf, seufzt und sagt zu ihm: »Ephata«, das heißt: »Öffne dich!«“ Und wenn wir dann wieder Gottes Ruf hören, dann merken wir hoffentlich, sagt Elihu zu Hiob, „mit Nachdruck“, dass Gott uns warnen will. Uns vom falschen Tun, von Boshaftigkeit und Bosheit, Gemeinheit und Grausamkeit abbringen will. Wir haben wahrlich als Menschen keinen Grund stolz zu sein, sagt Elihu. Wir sind schwach, gern einmal stolz und überheblich, eingebildet, sehen uns als Zentrum des Universums. Stolz ist da auch ein gefährliches Gefühl, ein verlockendes, verführerisches. Stolz auf sich selbst, stolz aufs Land, stolz stolzieren wir ins Verderben.
Gott will aber Leben retten, uns vorm Grab abhalten, so lange es möglich ist. Wir sollen nicht blind und taub ins Verderben laufen. An der Stelle 1. Buch der Könige 18,27 gibt es auf die Frage, warum Gott, hier eine Gottheit einer anderen Kultur, nicht antwortet, eine witzige Replik.
„Als es Mittag wurde, begann Elia zu spotten: »Ihr müsst lauter rufen, wenn euer großer Gott es hören soll! Bestimmt ist er gerade in Gedanken versunken, oder er musste mal austreten. Oder ist er etwa verreist? Vielleicht schläft er sogar noch, dann müsst ihr ihn eben aufwecken!«“
Die Stimme Elihus klingt ähnlich: „Warum beschwerst du dich bei Gott, dass er auf Menschenworte keine Antwort gibt?“
Mit dem Dichter Ambrose Pierce lässt sich hier wohl trefflich sagen: „Ein Langweiler ist ein Mensch, der redet, wenn du wünschst, dass er zuhört.“ Wenn wir Gottes Stimme gerade nicht hören, mag es daran liegen, dass wir dran sind mit dem Sprechen und dass Gott uns in diesem Moment zuhören will.
Amen